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■ Die Rede von Gerd Poppe (Bündnis 90 / Die Grünen) im Bundestag zum Schlußbericht der EnquetekommissionDer Mut zur Vorläufigkeit

Meine Damen und Herren, es ist eine gute Entscheidung des Deutschen Bundestages, die Debatte über den Bericht der Enquete-Kommission am 17. Juni zu führen. Es gibt kaum einen Tag in der deutschen Nachkriegsgeschichte, der das Bewußtsein der Deutschen in Ost und West nachdrücklicher geprägt hätte als der 17. Juni 1953. Die Ereignisse jenes Tages wurden jahrzehntelang verfälscht oder stark gekürzt dargestellt, dies durchaus nicht nur im Osten. Es bedurfte der friedlichen Revolution von 1989/90, um Klarheit über das tatsächliche Ausmaß der Ereignisse von 1953 zu gewinnen.

Die Berichte über die Demonstrationen und Streiks in über 400 Orten waren für lange Zeit in den Archiven von SED und MfS verschwunden. Jetzt liegen sie vor uns, und wir wissen, daß es nicht primär um Proteste gegen Normerhöhungen ging, daß außer den Arbeitern auch viele Bauern und Angehörige der Mittelschichten beteiligt waren, daß ihre Forderungen weit über das hinausgingen, was jahrzehntelang berichtet wurde.

Die Aktionen der Bauarbeiter in Berlin waren das Signal, die Demokratisierung im Osten Deutschlands zu fordern. Das wichtigste Ziel war der Sturz des Regimes.

Spätestens mit dem 17. Juni 1953 wurde der SED-Führung klar, daß sie gegen die Mehrheit der Bevölkerung regierte. Sie verfügte weder damals noch später jemals über eine mehrheitliche Zustimmung für ihre Politik, weshalb sie zunehmend ihren Macht- und Repressionsapparat ausbaute. Eines der Ergebnisse der Arbeit der Enquetekommission ist, die Aufmerksamkeit angesichts der neu vorliegenden Akten noch einmal auf diese Zusammenhänge gelenkt zu haben. [...]

Wir sollten unseren Bericht dem Andenken an die Opfer der SED-Diktatur widmen. Wir sollten das nicht mit falschem Pathos oder mit einem Hang zur Besserwisserei tun, sondern in dem Bewußtsein, daß unsere Ergebnisse unvollständig und vorläufig sind und daß sich daraus die Verpflichtung ergibt, die öffentliche Auseinandersetzung über die Vergangenheit zu fördern und allen Versuchen und Versuchungen, einen Schlußstrich zu ziehen, entschieden zu widerstehen [...].

Trotz der intensiven Arbeit der Gauck-Behörde, der Justiz, der Ermittlungsbehörden, der Enquetekommission und der vielen unabhängigen Aufarbeitungsinitiativen werden die Stimmen derjenigen immer lauter, die diese für die Festigung einer demokratischen politischen Kultur und die Entwicklung der inneren Einheit Deutschlands unverzichtbare Arbeit attackieren. Da ist von „Siegerjustiz“ die Rede, davon, daß der Westen über den Osten urteile und daß die Enquetekommission staatsoffizielle Geschichte schreibe. Die das sagen, wissen genau, daß sie sich verlogener Argumente bedienen.

Sie wissen wie wir, daß es authentische ostdeutsche Forderungen waren, die Täter zur Verantwortung zu ziehen, MfS-Mitarbeiter und -Zuträger aus der Politik und von unseren Kindern fernzuhalten, alte und neue Seilschaften zu unterbinden und vor allem den Opfern, soweit möglich, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Forderungen, die damals wie heute berechtigt sind. Dabei war nie von einer pauschalen Verurteilung die Rede. Immer ging es um die Prüfung individueller Verantwortung oder Schuld. Die Täter aber haben sich bis heute nicht zu ihrer Verantwortung bekannt und sie sind auch nur in den seltensten Fällen zur Verantwortung gezogen worden. Im Gegenteil. Sie stilisieren sich jetzt selbst zu Opfern hoch, Opfern der „Siegerjustiz“ oder der „gnadenlosen“ Bürgerrechtler [...].

Diverse Vereinigungen und Komitees, die das Wort „Menschenrechte“ oder „Gerechtigkeit“ im Namen führen, werden gegründet, Vereine zur Interessenwahrung von Tätern, zugleich Geschichtsfälscherwerkstätten und möglicherweise auch Geldwaschanlagen. Solange das so ist, meine ich, ist es überflüssig, von Amnestie zu reden, wohlgemerkt einer Amnestie von Tätern, die überhaupt noch nicht bestraft worden sind.

Unter diesen Umständen ist ein hohes Maß an Verantwortung von der Politik zu fordern, aber auch von der Wissenschaft, den Medien und dem öffentlichen Diskurs der Intellektuellen [...]. In den Medien wird nur selten eine gute Sendezeit der Darstellung der Alltagserfahrung der Ostdeutschen eingeräumt. Statt dessen werden dem Zuschauer immer noch Woche für Woche die eitlen Posen und das banale Geschwätz der Herren Krenz, Schalck und Co zugemutet.

Warum, meine Damen und Herren, werden wir über den Standort der Urne mit den Überresten Honeckers laufend informiert und wissen nichts über die Gräber der Opfer des 17. Juni? Ein Teil der deutschen Intellektuellen übt sich, dem Zeitgeist immer eine Spur voraus, in der neuen deutschen Versöhnlichkeit. Gestern konnten wir im Tagesspiegel etwas über die Geschicklichkeit, den Ideenreichtum, das sozialpolitische Engagement der SED-Nachfolgepartei, die man so nun nicht mehr nennen dürfe, lesen. Ihre Parlamentarier auf allen Ebenen wären Lehrmeister in Sachen Demokratie, meint der Autor, ein Wittenberger Pfarrer.

Was haben uns nun diese Lehrmeister zu sagen? Ich zitiere eine Kostprobe aus dem Sondervotum der PDS zum vorliegenden Bericht der Enquetekommission. Herr Keller, Sie haben kaum über Ihr Sondervotum gesprochen. Ich nehme an, daß Sie es auch nur sehr begrenzt teilen. Zitat: „Verglichen mit den in der überwiegenden Mehrheit der Staaten dieser Welt bestehenden politischen, sozialen und kulturellen Zuständen schneidet die DDR in jeder Hinsicht auch bezüglich der allgemeinen Menschenrechte gut ab.“ Hier wird am Ende gar das kannibalistische System Kaiser Bokassas I. zum Maßstab für die sogenannte erste sozialistische Demokratie auf deutschem Boden erklärt. Entgegen der unzutreffenden Behauptung, der Westen würde dem Osten seine Interpretation der Geschichte der DDR aufzwingen, sind es mehrheitlich Ostdeutsche, die sich mit der Aufarbeitung befassen. Gerade auch die Zusammensetzung der Enquetekommission zeigt das [...].

Ich meine, daß der Schlüssel zur erfolgreichen Auseinandersetzung mit der DDR-Vergangenheit nur zu finden ist, wenn man sie als gesamtdeutsches Problem begreift. Dies auch deswegen, weil die Geschichte beider Teile Deutschlands nicht getrennt voneinander behandelt und bewertet werden kann [...]. Da ich vorhin so viele Ungereimheiten und Defizite genannt habe, die in erster Linie mit den neuen Bundesländern zu tun hatten, möchte ich nun wenigstens ein ganz und gar westdeutsches Beispiel dafür nennen, wie man es nicht machen sollte. Sie können es selbst wenige hundert Meter von hier, im Haus der Geschichte, überprüfen.

Sie finden dort neben einer großzügigen Darstellung der ersten Jahrzehnte der Bundesrepublik auch ein kleines Eckchen über die Ereignisse in der DDR der achtziger Jahre. Neben der Darstellung der offiziellen DDR, einschließlich diverser Honecker-Fotos, gibt es nur wenige, erbärmlich wirkende Exponate zur Oppositions- und Bürgerbewegung. Diese bleibt gesichts- und namenlos, wie mein Kollege Weiß neulich sagte.[...].

Ein junger Mensch wird nach dem Besuch dieser Ausstellung alles über das Aussehen von Kaffeemaschinen und Toastern aus der Zeit des Wirtschaftswunders wissen, einiges über Adenauer, Brandt und die frühen Bundestagsdebatten, aber so gut wie nichts über das alltägliche Leben oder gar über Opposition und Widerstand in der DDR. Dies ist ein mißratener Beitrag zur Zusammenführung der Deutschen.

Sicher gibt es auch zur Arbeit der Enquetekommission Kritisches zu sagen. Manchen werden die Aussagen zu vage erscheinen, andere werden sie bereits als zu festgelegt empfinden. Die parteipolitisch motivierten, wenngleich in einer Wahlkampfzeit verständlichen Schaukämpfe haben den Abschluß der Arbeiten auf unnötige Weise gefährdet. Letztlich aber rechtfertigt das Ergebnis den großen Aufwand. Die Kommission hat ihrem Auftrag gemäß nicht die Aufgaben der Fachwissenschaftler vorweggnommen, sondern die politische Auseinandersetzung über Geschichte und Folgen der SED- Diktatur geführt. Das Zusammenwirken von Politikern, Historikern und Zeitzeugen, von Verantwortungsträgern über Oppositionelle bis hin zu Opfern des autoritären Systems hat nicht nur den Horizont der Beteiligten erweitert, sondern eine umfangreiche Materialsammlung entstehen lassen, die noch jahrelang Anstöße für weitere Untersuchungen geben wird.

Mit einigen Themen hat die Kommission Neuland betreten, vor allem bezogen auf die jüngere DDR-Geschichte. Die Ergebnisse sind nicht in elitären Zirkeln, sondern vor den Augen der Öffentlichkeit zusammengetragen worden. Die Kommission hat den Mut zur Vorläufigkeit gehabt. Ich denke, daß es besser ist, sich zu den vielen offenen Fragen zu bekennen, als diesen Umstand mit glattem Perfektionismus zuzudecken [...]. Es ging nicht um die Demütigung der Ostdeutschen, sondern um die Wiederherstellung ihrer Würde [...]. Gerd Poppe

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