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Thermo-Notausgang

■ Dank größerer Hitzebeständigkeit präsentiert sich Kamerun beim 2:2 gegen Schweden erneut als gelungene Überraschung

Berlin (taz) – Keine Viertelstunde war der Mann mit den blonden Rastalocken auf dem Platz, da nahm er Maß. Das heißt, eigentlich nahm er gar nicht Maß. Mehr als 30 Meter vom Tor des Joseph Antoine Bell war es ihm wahrscheinlich einfach zu weit, seinen Mannschaftskameraden eine weitere fruchtlose Kombination in Strafraumnähe aufzuzwingen, um dann ausgepumpt wieder zurückhecheln zu müssen. Also nahm Larsson den Ball und semmelte ihn einfach los.

Mit Hilfe eines dieser Schuhe, die vorne aussehen wie ein Gürteltier hinten, und dem Schützen geheimnisvolle Vorteile bringen. Monsieur Bell im Tor zeigte sich jedenfalls beeindruckt. Zu weit vor seinem Gehäuse plaziert, ließ er den Ball an die Latte klatschen und blieb dann staunend stehen, um Martin Dahlin, Mönchengladbachs Schweden mit venezolanischer Herkunft, den Ball weitgehend ungestört via breiter Stürmerbrust und Gürteltierschuh ins Tor befördern zu lassen.

Für Leverkusens Trainer Stepanovic, als Zuschauer im Rose Bowl, war das „ein Tor aus Neuguinea“. Was immer er damit meinte, durch diesen Treffer war's mal wieder amtlich: Geschichte wiederholt sich doch nicht. Schweden entrann dem grausamen Schicksal, das italienische Trauma von drei 1:2-Endrundenpleiten in den USA gleich wiederaufleben zu lassen. Und obwohl sich Thomas Ravelli im schwedischen Tor so schusselig anstellte wie Pumpido vor vier Jahren im argentinischen – Oman-Biyick dankte wieder mit einem Treffer –, wurde es für Kamerun kein nahtloser Anschluß an italienische Triumphe.

Dabei spielte die afrikanische Mannschaft wesentlich besser, als man es nach einer desolaten Vorbereitung mit zum Teil trostlosen Ergebnissen hätte erwarten können. Weshalb sie es sich auch leisten konnten, auf einen neuen WM-Rekord zu verzichten, und mit dem 42jährigen Roger Milla den ältesten WM-Spieler aller Zeiten noch auf der Bank ließen.

Doch trotz des guten Spiels Kameruns bemaßen die Interpreten der neunzig Minuten von Pasadena ihre Auslegungen der Geschehnisse vornehmlich am Thermometer. Den Chor der Jammernden eröffnete Torschütze Dahlin: „Die erste Halbzeit, als die Sonne auf den Rasen brannte, war schrecklich.“ Auch sein Trainer Tommy Svensson sah das schwedische Team vornehmlich mit dem Temperatur-Handicap ringen: „Die Hitze hat uns mehr zu schaffen gemacht als den Afrikanern.“

Carlos Alberto Parreira, der Trainer des brasilianischen Nationalteams, baut die Quecksilbersäule offensichtlich sogar bereits in seine Planungen für die weiteren Gruppenspiele ein: „Ich denke, auch die Russen werden der Hitze Tribut zollen.“

Das Argumentationsfeld für die Spiele der WM ist also endlich gefunden. Die Wärmefühler sind der Notausgang für alle Scheiternden aus gemäßigten Zonen. Gut für die Neger aus Afrika, wie die Lyrikabteilung von dpa resümierte: „Kameruns hitzetrainierte Löwen können in den Glutöfen der WM-Stadien jeden Gegner fressen.“ Christoph Biermann

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