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Risse in der Haut

■ Morgen hat „tanz:Mauser“ Premiere

Draußen ist alles ordentlich. Ordentlich übertüncht. Denn in der ehemaligen Tarnsiedlung Ochsenzoll hat sich die Vorstadtidylle breitgemacht, in der rein gar nichts mehr auf die historischen Wurzeln verweist. Das Dorf mit Reetdächern und angeblichen Krankenhausbauten sollte Anfang der 30er darüber hinwegtäuschen, daß hier – später unter anderem mit Arbeitern aus dem KZ Neuengamme – entgegen den Auflagen des Versailler Vertrages Kriegswaffen produziert wurden.

Drinnen, im Dachgestühl einer ehemaligen Bombenzünderfabrik, arbeiten Stefan Rosinski und seine Crew an der Sichtbarmachung von Rissen und Fehlleistungen, durch die Unsicherheit, Unfreiheit und Geschichte hervorstolpern.Der Widerstreit des individuellen Bedürfniswesens und der maschinellen Erwartungen einer selbstbezogenen Ideologie thematisiert Heiner Müllers Revolutionsstück „Mauser“, das von Rosinski in ein Tanzschauspiel umgearbeitet wurde. Einem getreuen Henker der Revolution versagt eines Tages die Hand an der Waffe, und plötzlich wird aus dem Schlächter im Auftrag einer endlichen Wahrheit ein zu Schlachtender.

Die Unbeherrschbarkeit des menschlichen Körpers durch die Disziplin eines in Bürokratie erstarrten Gedankens versucht Rosinski mit „Störungen“ nachzuzeichnen. Störungen im Tanz, in der Artikulation, durch den Raum und im Zusammenspiel von Text und Bewegung ergründen die Revolte des Körpers gegen den Gehorsam.

Der ungekürzte, verstiegen-tiefgründige Text wird von den Choreografien von Fatima Niza zu Musik von Nick Cave gleichzeitig attackiert und weitergeführt. Drei Tänzerinnen als Chor der „Partei“ und ein Schauspieler als der Henker „A“ bieten eine ent-emotionalisierte Form des Dramas, die im Sinne Brechts die Einfühlung durch das bewußte Distanzgewinnen ersetzen, aber keine Moralität oder Parteilichkeit der Interpretation beabsichtigt.

In einem wunderschönen lebenden Raum der Bühnenbildnerin Luise Czerwonatis, der selbst eine eigene verrätselte Geschichte erzählt, analysiert Rosinski die Geschichte der Gewalt in einem Spannungsverhältnis aus hoher Abstraktion und psychologischem Spürhund mit durchaus pathetischen Gesten. Premiere ist morgen abend. Danach läuft das Stück bis 3. Juli. Achtung: Anreise mitkalkulieren!Till Briegleb

Bombenzünderfabrik Essener Straße 2, U-Bahn Ochsenzoll und Bus 378/292, jeweils 21 Uhr. Karten über die Kammerspiele

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