: Eine Leiche droht zu sterben
■ Was von der Verfassungsreform übrigblieb: Nach Streit in der Regierungskoalition steht abschließende Verfassungsdebatte in Frage
Bonn (taz) – Die Regisseure der Demokratie hatten alles so schön gerichtet: Erst sollte der Bundestag am kommenden Donnerstag im Berliner Reichstag die Verfassungsreform verabschieden, tags darauf am selben Ort Roman Herzog vereidigt werden. Beides gehört zusammen: die Anpassung des Provisoriums Grundgesetz an die politische Wirklichkeit der wiedervereinigten Nation und die Amtseinführung des ersten von einer gesamtdeutschen Bundesversammlung gewählten Staatsoberhaupts. Allein die Koalitionsfraktionen halten sich nicht ans Drehbuch. Die Verabschiedung der Verfassungsreform droht zu platzen.
So muß heute der Ältestenrat des Bundestage über eine Verschiebung der Verfassungsdebatte in die nächste Legislaturperiode beraten. Seine Entscheidung hängt davon ab, ob sich Liberale, CDU- und CSU-Politiker sowie Vertreter der Länder einigen können, was Hermann Otto Solms (FDP) gestern als wahrscheinlich bezeichnete. Seit 1991 hatte die gemeinsame Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat gearbeitet und im vergangenen Jahr mit Zweidrittelmehrheit Empfehlungen verabschiedet.
Die Freien Demokraten beharren jetzt im Gegensatz zum Koalitionspartner auf Minderheitenschutz, die Gleichstellung nichtehelicher mit ehelichen Lebensgemeinschaften und den Tierschutz – alles Punkte, mit denen sich vor der Wahl noch einmal trefflich Unbeugsamkeit demonstrieren läßt. Denn die Unionsfraktion votierte gegen das Staatsziel Tierschutz und gegen die Gleichstellung nichtehelicher Lebensgemeinschaften. Fraktionschef Wolfgang Schäuble stellte am Dienstag klar: „Gegen eine geschlossene CDU/ CSU wird es keine Verfassungsänderung geben.“ Unstrittig zwischen Koalition und SPD sind dagegen die Aufnahme eines erweiterten Gleichberechtigungsgebotes, eine recht unverbindliche Festschreibung des Staatsziels Umweltschutz sowie das Verbot der Diskriminierung Behinderter.
Ehe bei der zweiten Lesung in Berlin „Zufallsmehrheiten“ entstünden, die aus Sicht der Union nicht sinnvoll seien, so kündigte Schäuble am Dienstag an, werde eben nicht debattiert.
Bei der strittigen Frage der Länderkompetenzen verläuft die Konfliktlinie quer durch die Unionsfraktion. Die CSU-Landesgruppe, die sich für mehr Föderalismus stark macht, wurde in der CDU/ CSU-Fraktion überstimmt. Nachdem die CDU den Verzicht auf Bundeskompetenzen abgelehnt hat, ist nun auch die notwendige Zustimmung der Länder zu dem mühsam ausgehandelten Kompromiß fraglich. Hans-Jochen Vogel (SPD) sieht die Verfassungsreform „scheibchenweise zu Grabe getragen“. Sein Vorschlag: „Ehrlicher wäre, offen jede Verfassungsreform abzulehnen und den Auftrag aus dem Einigungsvertrag unerfüllt zu lassen.“
Einer solchen Empfehlung könnten sich die Abgeordneten von Bündnis 90/ Grüne durchaus anschließen. Für sie war das einstige Renommierprojekt Verfassungsreform schon längst gestorben, bevor sich die Koalitionsfraktionen nun anschickten, ihm das letzte Lebenslicht auszublasen.
Tatsächlich ist der im Einigungsvertrag festgeschriebene Auftrag, ein neues Grundgesetz zu schaffen, das der politischen Wirklichkeit des vereinten Deutschland gerecht wird, nicht erfüllt worden. Sowenig wie das Volk über seine Verfassung abstimmen wird.
Weil Reformansätze für mehr plebiszitäre Elemente, für eine Festschreibung der sozialen Verantwortung und eine wirksame Stärkung des Umweltschutzes abgeblockt wurden, verließ der Bündnisgrüne Abgeordnete Wolfgang Ullmann im Frühjahr 1993 die gemeinsame Kommission.
Für den Justitiar der Bündnisgrünen im Bundestag, Jürgen Roth, wäre ein Scheitern angesichts der „Destruktionspolitik der Regierungsfraktionen“ nur konsequent. Ob die vielen politisch interessierten Bürgerinnen und Bürger die Beerdigung der Reformreste genauso unbeeindruckt hinnehmen würden, ist dagegen fraglich. Immerhin waren 800.000 Reformvorschläge bei der gemeinsamen Kommission eingegangen – ein einsamer Rekord in der deutschen Parlamentsgeschichte. Hans Monath
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen