: Am Fußball haben wir das Leben
Die Herren kennen die Spielregeln oder: Im Ratibor-Theater gibt's Kabarett zwischen WM-Spielen ■ Von Cornelia Heim
Wer Fußball guckt, der geht ins Stadion. Falsch. Er geht ins Theater, goutiert dort argentinische Leichtfüßigkeit, zieht sich hernach eine Stunde Kabarett rein, wo sich natürlich auch alles um das runde Leder dreht, um zu guter Letzt die Fußball-„Diplomaten“ von Kanzler-Freund Hans-Hubert Vogts Gnaden ein mageres Pünktchen erackern zu sehen. So geschehen im Ratibor-Theater, wo Abend für Abend jeder Lügen gestraft wird, der immer noch davon überzeugt ist, daß die niedere Kunst des Ballkickens nichts mit der hohen Bühnenkultur gemein habe. Was wir aus dem gemeinschaftlichen Theater-Fußball-Doppelpaß lernen? Fußball ist Kunst. Warum sollte sich auch die Fußball-Weltmeisterschaft nur hinter verschlossener Wohnzimmertür abspielen? Fußball ist unser Leben. Und lange bevor die balltretende Elite uns diese weltmeisterliche Erkenntnis in die Stuben trällerte, haben Intellektuelle dem Kunstgenuß der füßelnden elf Freunde die höhere Weihe ausgesprochen. Schon Albert Camus versicherte: „Im Fußball erfährt man alles übers Leben.“
Und Theaterintendant Jürgen Bosse offenbart, was Kulturschaffende insgeheim mit dem Fußball verbindet – „die zentrale Sehnsucht aller Künstler nach den einfachen Regeln.“ Wenn es denn so einfach wäre. Peter Handke: „Der Fußball hat eine Seele.“ Ludwig Harig: „Alles, was sich spielerisch mit der kruden Wirklichkeit beschäftigt, ist Kunst.“ Und Kunst wiederum ist, „jedes Können höherer und besonderer Art“ – so steht's zumindest im philosophischen Wörterbuch.
Deshalb: „Ihr braucht es nicht mehr länger zu verheimlichen! Macht's wie wir, die wir bekennen: ja, auch wir werden Fußball-WM glotzen – und zwischendurch Programm machen.“ Wir, das sind Christoph Jungmann und Robert Munzinger von Zwei Drittel nebst Horst Evers aus Dr. Seltsams Frühschoppen. Multimedial wird im Ratibor geglotzt: Aus fünf Fernsehern gleichzeitig düpiert Spaniens Goicoechea die deutsche Abwehr.
„Jetzt geht's los.“ Tröten tröten, Bier fließt, Nikotin kräuselt sich unter der niederen Decke, aus den Kehlen der rund 60 Theaterbeflissenen grölt deren versammelter Bundestrainer-Verstand. Stadion- Live-Atmosphäre im Theater, bestens angeheizt von Kabarettisten.
Horst Evers, beispielsweise, der tiefsinnig hinter dem Fußballer den „Menschen“ gesucht hat und dabei feststellte, „der Deutsche ist nicht dumm, aber trotzdem fleißig“. Aber, „wenn ihm langweilig ist, führt er Weltkriege oder bewirbt sich um Olympische Spiele“. Oder: „Der ältere Deutsche fährt gern ins Ausland, weil er dort schon mal Soldat war; der jüngere fährt ins Ausland, weil ihm ein Urlaub in Deutschland zu teuer ist.“
Ja, bei derart intensiver mentaler Einstimmung aufs Spiel, muß auch der der Ballkunst Unkundige wissend mitjubeln. Der Spanier, die Sprache: „Auf den Inseln spricht man Deutsch, sonst Spanisch, was den Deutschen verwirrt. Denn auch der Bolivianer spricht Spanisch.“
Was wiederum den Deutschen, des Südkoreanischen unmächtig, eine Absprache zwischen den Gruppengegnern Spanien und Bolivien befürchten läßt. Horst Evers begnügt sich mit der transparenten Nachdenklichkeit der Sprichworte. Der Ball ist rund. Vor dem Spiel ist nach dem Spiel. Und: Wenn man kein Glück hat, kommt oft noch Pech dazu. Das ist sie, die hohe Fußballkunst, die den Fan zur Identifikation mit Ball und Kleinkunst treibt.
Oder sollte es doch eher die Lust am Spiel sein? Oder an der Wette, die Valerien-Imitator Christoph Junghans (sehr gut!) samt dem zum Busfahrer der deutschen Nationalmannschaft degenerierten Formel-Eins-Heroen Niki Lauda alias Robert Munzinger (dito) präsentieren: 1. das Ergebnis, 2. die Zahl der gelben Karten, 3. wie oft die Bahre zum Einsatz kommt. Die Herren kennen die Spielregeln.
Auch heute, morgen, 27.6. und während des Achtelfinales am 2.–5.7. im Ratibor-Theater, Cuvrystraße 20, Kreuzberg.
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