piwik no script img

Razzien in Tübingens Botanik

Grüne Bürgermeisterin droht Drogensüchtigen mit Platzverweisen / Die Stadt soll kein „Anziehungspunkt für Süchtige“ werden / Verbotszonen für Junkies  ■ Aus Tübingen Joachim Zepelin

Die Stadtverwaltung in Tübingen läßt keinen Zweifel aufkommen: „Wir wollen kein Anziehungspunkt für Süchtige werden“, sagt Bürgermeisterin Gabriele Steffen, wie viele ihrer Amtskollegen. Doch kaum ein anderer Verwaltungschef geht das Drogenproblem derart rigide an, wie die seit vier Jahren amtierende Grüne in der Universitätsstadt. Gemeinsam mit der örtlichen Polizeidirektion hat sie in der vergangenen Woche durchgegriffen. Seitdem wird der am Rande der Altstadt gelegene Treffpunkt der Junkies im Botanischen Garten mehrmals am Tag von uniformierten und zivilen Polizisten durchkämmt.

Wer im Zusammenhang mit Drogendelikten polizeilich registriert ist, bekommt von den Fahndern einen fotokopierten, vierseitigen „Platzverweis mit der Androhung unmittelbaren Zwangs“ samt Lageplan der vorläufig bis zum 30. Oktober verbotenen Zone. Oben wird auf dem Blanko-Formular nur der Name des „Störers“, der „insbesondere die Gesundheit der Bevölkerung bedroht“, eingetragen, unten setzt der Beamte seine Unterschrift unter die vorgefertigte des Abteilungsleiters beim städtischen Ordnungsamt. Allein an den beiden ersten Tagen wurden 56 Personen überprüft, von denen 26 einen Platzverweis erhielten – unter anderem weil sie mit Drogen handeln, wie es pauschal in der Verfügung heißt.

Nach Beobachtungen der Polizei hat sich die Situation in der Grünanlage in letzter Zeit zugespitzt. Vor allem auswärtige Dealer aus dem nahegelegenen Stuttgart seien zunehmend im Park angetroffen worden. Die Zahl der Süchtigen aus dem Landkreis wird auf 500 geschäzt. Immer wieder, so Steffen, hätten sich auch Anwohner beschwert und Eltern über herumliegende Spritzen geklagt. Diesem Druck hat die Stadt jetzt ohne jede Vorwarnung nachgegeben. Weder hat man vorher das Gespräch mit Süchtigen oder Sozialarbeitern gesucht, noch versucht, die Situation mit einem Container für gebrauchte Spritzen zu entschärfen.

Verbunden mit den Platzverweisen ist die Androhung von Zwangsgeldern, die notfalls auch mit Zwangshaft eingetrieben werden sollen. Zwar kündigt Steffen auch Hilfsangebote für Süchtige an, allerdings müsse dafür zunächst eine Konzeption erarbeitet werden. Bis zur vergangenen Woche beschränkte sich die städtische Drogenarbeit nämlich im wesentlichen auf einen bescheidenen Zuschuß für die Drogenberatungsstelle.

Herbe Kritik erntete Gabriele Steffen vor allem in den eigenen Reihen. Eine Vertreterin des städtischen Sozialamtes beurteilt die Politik ihrer Chefin als „wenig hilfreich“ und merkt an, daß viel mehr Räumlichkeiten für die Szene notwendig seien.

Auf einer gemeinsamen Pressekonferenz zeigten sich verschiedene Gruppen bestürzt über die Vertreibung der Junkies. Eine Vertreterin von JES (Junkies, Ehemalige und Substituierte) bezeichnete die Aktion als einen „Schlag ins Gesicht“, da man völlig unvorbereitet getroffen worden sei.

Tübingens Drogenhelfer sehen ihre erfolgreiche Arbeit der letzten Jahre gefährdet. Von der gelungenen Präventionsarbeit zeugt beispielsweise, daß es in der Stadt seit einem Jahr keine festgestellte neue HIV-Infektion unter Drogensüchtigen gegeben hat, obwohl „noch nie so viele Leute zu mir gekommen sind und einen Test machen ließen“, berichtet Ursula Schöntag, Ärztin am Tübinger Gesundheitsamt. Sie befürchtet, daß sich die Drogenszene jetzt mit anderen Gruppen, insbesondere mit arbeitslosen Jugendlichen vermischt.

Die Aids-Hilfe spricht von einer „gesundheitspolitischen Katastrophe“. Die Tübinger Szene sei in den letzten Jahren selbstbewußter, sichtbarer und darum für Drogenhelfer wie für die Polizei überschaubarer geworden. Jetzt, so Streetworkerin Sabine Engelhardt, sei es für sie viel schwieriger, an die Junkies heranzukommen.

Der Rechtsanwalt Hermann Keske, FDP- und Akzept-Mitglied, hält die Platzverweise für eindeutige Grundrechtsverletzungen. Für Christiane Eckert von der Drogenberatung ist es „unfaßbar, daß da eine Bürgermeisterin dahintersteckt, die der linken Szene zuzuordnen ist“.

Alle Gruppen sind sich darüber hinaus einig, daß die Platzverweise ohnehin nur zu einer Verlagerung der Szene führen werden. Das seien schließlich die bekannten Erfahrungen mit dem „Junkie-Jogging“ in anderen Städten wie etwa Frankfurt oder Stuttgart. Insider kennen bereits den nächsten Szene-Treffpunkt in Tübingen. Es ist eine Grünanlage beim Anlagensee. Der Park grenzt an drei Schulen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen