: Das Hafenproletariat kriegt keine Jobs
In der Londoner Hafenzeile „Canary Wharf“ regieren Armut und Arbeitslosigkeit / In den teuren Büros des gigantischen „Redevelopment Project“ ist nur für White-Collars Platz / Berliner Arbeitsmarktexperten informierten sich vor Ort ■ Von Christian Füller
Der Kapitän der „Peraglia“ schippert TouristInnen die Themse von Central-London nach Greenwich hinunter und weidet sich an Superlativen: Das höchste Gebäude des Vereinigten Königreichs entdeckt er in den Docklands, der einst so bedeutsamen Londoner Hafenzeile, die inzwischen darniederliegt. „Canary Wharf“ heißt das 259 Meter hohe Superstück, die Canary Werft, das zweitgrößte Gebäude Europas, prahlt der Kapitän. 20.000 Menschen könnten darin arbeiten. Könnten. Aber es sei nur zu 40 Prozent belegt, spottet er. Canary Wharf, dieses gigantische Projekt des „Redevelopment“, war den residents, den Anwohnern der Docklands, als eine Art Entwicklungshilfe verkauft worden. 30.000 Menschen arbeiteten in den 60er Jahren in den Werften, den Lagerhäusern und Umschlagplätzen entlang der Themse. Heute sind es noch 1.000. Es regieren Arbeitslosigkeit und Armut. 1981 gegründet, „um die Wiedergeburt des Gebiets zu sichern“, ist heute klar, wofür die eigens gegründete Entwicklungsgesellschaft und ihr Vorzeigeobjekt, die Canary Werft, wirklich stehen: für Investitionsobjekte, die Londons Position als Weltstadt festigen sollen. Die Menschen zählen da nurmehr als Investitionsanreize. In den Hochglanzbroschüren, die an finanzkräftige Unternehmen und Konzerne adressiert sind, steht: „Wir bieten Ihnen eine wachsende lokale Bevölkerung von 64.000 Menschen“ – als einem aus einem Dutzend Investitionsanreizen. Und die Schulen der Docklands hätten die Herausforderung der High-Tech-Arbeitsplätze vor ihrer Haustür angenommen: „Sie produzieren einige der besten computerausgebildeten Jugendlichen der Europäischen Union.“
Der geschäftsführende Direktor der Entwicklungsgesellschaft der Docklands (LDDC), Erik Sörensen, listet seine Erfolge auf. In den Docklands sei die erste neue U-Bahn in London seit 30 Jahren gebaut worden; es gebe 56.000 Arbeitsplätze in den ganzen Docklands. „Dieser Platz wird funktionieren“, sagt Sörensen, „wir sind stolz auf das, was hier passiert ist.“
Andere sind das nicht. Mittlerweile gibt es in den Docklands zwei Dachorganisationen der lokalen Gegner des Mammutprojekts. Ihre Kritik: Ohne die Beteiligung, teilweise gegen den Willen der Anwohner, sei ein Megaprojekt geschaffen worden. 1,6 Milliarden Pfund seien aus öffentlichen Haushalten in das Projekt geflossen. Aber es berücksichtige nicht die Bedürfnisse der Menschen. 75 Prozent der Arbeitsplätze sind aus Zentral-London in die Docklands „transplantiert“ worden.
Was Canary Wharf brachte, sind teure Büros für moderne Dienstleistungsunternehmen aus der Kommunikations-, der Finanz- und Versicherungsbranche. White-Collar-Arbeitsplätze mit technisch-akademischer Ausbildung und anschließender Spezialisierung in die feinen Verästelungen neuer Berufe hinein. Dem klassischen Hafenproletariat aber muß klargemacht werden: Ihr kriegt nicht die Jobs, die hier entstehen, und die Wohnungen könnt Ihr nicht bezahlen!
Wozu das Mutterland des Kapitalismus eine Generation und eine Ära Thatcher Zeit hatte, das blüht Berlin in der Handvoll Jahren seit der Wiedervereinigung: mit einer durch massenhafte Arbeitslosigkeit hervorgerufenen sozialen und psychischen Armut fertig zu werden. Wie man damit in London umgeht, diskutierte eine Berliner Delegation, angeführt von Mitarbeitern der Arbeitssenatorin, bei einer Konferenz, die unter dem Motto stand: Arbeitsplätze schaffen, Arbeitslosigkeit abbauen, die städtische Wirtschaft entwickeln. Der Markt, so die Quintessenz in der „South Bank University“, schafft – vor allem in den Metropolen – weder genug noch billigen Wohnraum; und er sorgt schon gar nicht für ausreichend Arbeitsplätze.
„Mind the gap!“ Die Stimme aus dem Off im Londoner Untergrund, die davor warnt, zwischen die Bahnsteigkante und die U-Bahn zu geraten, sie könnte für die Analyse der metropolen Arbeitsgesellschaft stehen: Die Schere zwischen den Arbeitsplätzen für Hochqualifizierte und den Dienstleistungsjobs auf bisweilen unterstem Niveau geht immer weiter auseinander. Hie hochschuldiplomierte Yuppies. Da Nicht- oder Dequalifizierte, Arbeitslose, TeilzeitjobberInnen, ImmigrantInnen, deren Zukunft es sein wird, HandlangerInnen für die Besserverdienenden zu sein.
Professor Amin Rajan hat den Londoner Arbeitsmarkt dort untersucht, wo vergleichsweise die meisten Arbeitsplätze in den letzten Jahren entstanden sind: im Herzen des euorpäischen Finanzzentrums, der City of London. Das Ergebnis ist frappierend: Zwar wird auf den „wissensbasierten und ausbildungsintensiven“ Jobs des Finanz- und Wirtschaftsplatzes der größte Zuwachs erzielt: 55.000 Arbeitsplätze bis zum Ende des Jahrtausends. Aber diese optimistische Prognose ist zum einen in extremer Weise vom wirtschaftlichen Wachstum abhängig. Zum andern verschärfe sich die bereits deutlich sichtbare Segmentierung des Arbeitsmarktes. Auf gut deutsch: die Niedrig- oder Unqualifizierten kriegen garantiert nichts ab vom prekären Wachstum des Finanzplatzes London.
Solcherart Probleme wird Berlin so schnell nicht bekommen. Für die Stadt gehe es darum, so Kurt Geppert vom angesehenen Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, „überhaupt irgendeine“ wirtschaftliche Bedeutung zu erlangen. Berlins ökonomische Struktur sei geprägt von einer außerordentlich schwach ausgebildeten privaten Wirtschaft. Dagegen habe der öffentliche Beschäftigungssektor einen überproportionalen Anteil von 25 bis 30 Prozent. Geppert prognostizierte, daß bis zum Jahr 2000 80.000 neue Arbeitsplätze und bis 2010 sogar 180.000 entstehen könnten. Aber auch dieser Zuwachs werde das Problem der Arbeitslosigkeit in Berlin keinesfalls lösen. „I'm not very hopeful“, sagte der Wissenschaftler resigniert.
Berlin habe so gut wie nichts zu bieten. Am Ende rettet man sich auf den Umzug von 600 ParlamentarierInnen, einigen tausend Beamten und setzt hinzu, daß Brandenburg ein herrliches Umland sei. Berlins Zukunft: die politische Klasse und ein bißchen märkisches Grün drumherum.
Freilich gibt es Felder, in denen Berlin „die Innovation anführt“. Günther Schmid vom Wissenschaftszentrum Berlin zielte damit auf die Arbeitsmarktpolitik selbst. Berlin sei Vorreiter in einer auf Qualifizierung und Neuschaffung von Arbeitsplätzen zielenden Strategie. Nur Hamburg gebe insgesamt mehr Geld aus als Berlin mit seinen 450 Millionen Mark (1993) für Arbeitsmarktprogramme. Mit den privatwirtschaftlich organisierten „Service-Gesellschaften“ und den sogenannten Arbeitsförderbetrieben gebe es gar echte Neuheiten an der Spree. Berlins avantgardistische Rolle wird an dieser Stelle nur noch von einem gebremst – von Bonn. Der Wirtschafts-Professor der Freien Universität, Schmid, forderte Steuererleichterungen und Zuschüsse für Betriebe, die schwer vermittelbare Arbeitskräfte und Behinderte beschäftigen.
Franziska Eichstädt-Bohlig wurde konkreter: Sie ist Geschäftsführerin von Stattbau, einem der Grass-roots-Projekte, die mittlerweile zu einer Gruppe gemeinnütziger Unternehmen geworden sind. 350 Menschen arbeiten bei der Stadtentwicklungsgesellschaft Stattbau und weiteren sogenannten gemeinnützigen GmbHs, die im weitesten Sinne ökologische Bauplanung und -ausführung treiben. Eichstädt, die für Bündnis 90/ Grüne in den nächsten Bundestag einziehen will, kritisierte das Monopol des privaten und öffentlichen Sektors, als Arbeitgeber aufzutreten. Dieses Monopol müsse gebrochen werden. „Wir müssen zwischen dem ersten und dem zweiten Sektor einen dritten einrichten“, sagte Franziska Eichstädt. Das sollten Sozialbetriebe sein, gemeinnützige Wirtschaftsbetriebe, die effizientes Arbeiten verbinden mit der sozialen Aufgabe, Menschen zu beschäftigen und zu qualifzieren. „Das ist ein wichtiges Instrument, die Dequalifizierung von Millionen von Menschen durch Arbeitslosigkeit und erzwungene Faulheit zu vermeiden.“
Das Beispiel London zeigt, daß man dort auf dem richtigen Weg ist. Erst der unermüdliche Einsatz lokaler Gruppen sorgte etwa dafür, daß die britische Regierung das Planungsgesetz für eines der größten Sanierungsgebiete in Europa zurückzog. Es ist der Bahnhof Kings Cross, der ausersehen war, den Zugverkehr durch den Kanal- Tunnel aufzunehmen. Durch London hindurch sollte ein niedriger Eisenbahntunnel gezogen werden. Aus Kings Cross wäre Kontinents Cross, Londons Kreuzung zum europäischen Festland, geworden. Bahnhof und Umgebung hätten ein rund 30 Hektar großes „Entwicklungsgebiet“ abgegeben. Büroflächen im großen Stil sollten entstehen und ein paar Wohnungen als Anhängsel für das bessere Marketing.
Doch der Widerstand gegen diese Art von „Entwicklung“ war zu groß. Die Initiative „Kings Cross Railway Lands Group“ setzte dagegen. Sie fragte, wo die Interessen der residents, der Anwohner, bleiben. Und betrieb ein planning for real. Dieses Planungsverfahren – das vor wenigen Wochen von StudentInnen der TU erstmals auch im Wedding angewandt wurde – ermittelt nicht nur Investorenwünsche; sie fragt auch nach den sozialen Anforderungen einer Planung, sprich: Was können die AnwohnerInnen, was braucht der Kiez? Local needs, lokale Bedürfnisse, das war das Ergebnis des planning for real: Wohnungen, Arbeit, Ausbildung. Und echte Beteiligung. „Wir wollen Partner sein“, formuliert Michael Parkes seine Kernforderung, „und nicht passiv eine Planung entgegennehmen.“ Kings Cross steht für eine Widerständigkeit, die lokale Demokratie erst erzwingt: Daß die betroffenen BürgerInnen teilhaben an der Planung einer Sanierungsmaßnahme, daß sie sie mitgestalten, mitbauen und mitnutzen.
Und es funktioniert. In der Holy Street in Hackney, einem der Londoner Problem-Bezirke, bauen sich arbeitslose Anwohner selber neue Häuser. In den alten Hochbauten mag keiner mehr wohnen. In diesen Blocks herrscht teilweise eine Arbeitslosigkeit von 80 Prozent. Den sozialen Problemen und ihren politischen Auswirkungen – Kriminalität, Gewalt, Drogen, Rechtsradikalismus – wird keiner Herr. Also wird man die Hochhäuser abreißen, in denen es Flure von einem Kilometer Länge gibt. Vorher entstehen ein paar hundert Meter weiter Reihenhaussiedlungen. Jedes mit eigenem Zugang zur Straße. Ein Gärtlein ist dabei.
Bent Eaton und Dave Pitchir waren ohne Arbeit. Jetzt bauen sie die neuen Häuser mit auf. Und „arbeitslos“ sind sie nur noch formal. Sie erhalten wöchentlich unemployment benefits, das staatliche Arbeitslosengeld, und einen bescheidenen Zuschuß von Laing. Das ist eine der größten Baufirmen Englands, und sie hätte in der Holy Street aus Profitgründen vermutlich keinen Stein auf den anderen gesetzt. Nun aber gibt es eine Kooperation mit der Regierung und dem „Arbeitsamt“. Laing baut Häuser – zusammen mit Arbeitslosen. „Wir versuchen, so viele örtliche Arbeitslose zu beschäftigen wie möglich“, sagt der Projekt-Manager von Laing, John Williamson. Der Staat bezahlt den Arbeitslosen ihre Stütze. Für ein Jahr, in dem sie den Beruf des Maurers auf der Baustelle und in einem Ausbildungszentrum erlernen. Dann übernimmt Laing in der Regel die neu ausgebildeten Arbeiter. Das Credo des Projekts, das in mehreren Londoner Bezirken praktiziert wird, heißt, so sein Initiator, der Architekt Levitt Bernstein: „Wir müssen eine Beschäftigung für die Menschen schaffen.“
An Projekten dieser Art machen auch die Gewerkschaften mit. Sie wollen ein Akteur sozialen Wandels sein. Aufgeschreckt haben die Gewerkschaften, so berichtete Jack Dromey von einer Transportarbeitergewerkschaft, der Zulauf zu Rechtsradikalen und Neonazis in bestimmten Vierteln. Dort müsse „die demokratische Frage“ wieder auf die Tagesordnung gesetzt werden: Echte Partizipation und Mitarbeit, ehe Ausgegrenzte und Verarmende ihr Heil bei den Parolen der Neuen Rechten suchen.
Doch auf die demokratische Frage gibt es keine einfachen Antworten. Alle Projekte, die wie das planning for real an den Bedürfnissen und Fähigkeiten der lokalen Bevölkerung ansetzen, haben zunächst Probleme, die Menschen für ihre eigenen Angelegenheiten zu interessieren. Und wenn es gelingt, dann droht zunächst das Chaos. Als sie das erste Mal von Betroffenen den Haushalt einer Kommune im Planspiel aufstellen ließen, erzählte eine Aktivistin, „da hatten wir 35 schreiende Leute“. Auch lokale Demokratie will gelernt sein. Die „Community Builders“ aus der Londoner Coin- Street mußten erst eine Reihe von Treffen veranstalten, in denen sich die Leute aus dem „Kiez“ südlich der Themse zunächst kennlernten. Erst beim dritten Treffen ging es um die Probleme der AnwohnerInnen, nach einem Jahr habe man vernünftig reden können.
Heute und morgen veranstaltet die Senatsverwaltung für Arbeit einen Fachkongreß zum „Ausbau eines öffentlich geförderten Beschäftigungssektors“. Im Haus am Köllnischen Park stellen sich dabei auch Arbeitsprojekte und Sozialbetriebe vor.
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