: Kinkel will sich anstrengen
■ Regierungserklärung zum Vorsitz der Deutschen in der EU / Viele absichtsreiche Worte, aber keine Konzepte
Bonn (AFP/AP) – Zwei Tage vor Beginn der ersten deutschen Ratspräsidentschaft seit der Wiedervereinigung in der Europäischen Union am 1. Juli ist gestern im Bundestag ein Streit zwischen Regierungsparteien und SPD-Opposition über die Ziele der sechs Monate andauernden Präsidentschaft entbrannt. Während die Regierungskoalition von CDU/CSU und FDP weiterhin für die freie Marktwirtschaft ohne staatliche Reglementierungen plädierte, warnte die SPD davor, den Schwerpunkt einseitig auf Wirtschaftsinteressen zu legen.
Außenminister Klaus Kinkel (FDP) betonte in seiner Regierungserklärung die „dringend notwendige Entrümpelung in der europäischen Wirtschafts- und Arbeitswelt“. Als Schwerpunkte des deutschen EU-Vorsitzes nannte er die Überwindung der Arbeitslosigkeit sowie die Förderung des Friedens und der inneren Sicherheit. Er legte jedoch keine Konzepte vor. Kinkel setzte sich für die Heranführung der neuen Demokratien in Mittel- und Osteuropa an die EU ein. Er versprach, bis zum kommenden EU-Gipfel im Dezember neue Vorschläge vorzulegen, damit die Reformstaaten den schwierigen Übergang bis zum EU-Beitritt besser überbrücken können.
Kinkel kritisierte den Alleingang Großbritanniens im Streit um die Delors-Nachfolge. „Im Handeln auf eigene Faust liegt keine Zukunft mehr“, sagte er. Großbritannien hatte am Wochenende in Korfu die Wahl des belgischen Ministerpräsidenten Jean-Luc Dehaene zum Kommissionspräsidenten verhindert.
Unterdessen schlug Bundeskanzler Kohl moderatere Töne an. Die Differenzen seien „keine Krise, die tiefgeht und dauerhaft ist“. Er ließ aber offen, ob er einen neuen Kandidaten für die Delors- Nachfolge vorschlagen werde. Für den 15. Juli ist in Brüssel ein EU- Sondergipfel zur Delors-Nachfolge geplant. Harte Kritik im Zusammenhang mit dem letzten Gipfel kam von SPD-Oppositionsführer Hans-Ulrich Klose. Auf Korfu sei nicht über die 18 Millionen Arbeitslosen in der EU geredet worden, sondern über einen einzigen Menschen: den künftigen Kommissionspräsidenten. Wenn es eine Krise in der Union gebe, dann nicht, weil es keine Einigung über den Delors-Nachfolger gebe, sondern weil den Verantwortlichen nichts zur Überwindung der Massenarbeitslosigkeit einfalle. Hier gebe es viele Worte, aber keine Taten.
Klose wandte sich außerdem „dagegen, daß Kinkel unentwegt als Anwalt der Osteuropäer durch die Gegend reist“. Die Möglichkeiten zum Abschluß von Kooperationsverträgen seien begrenzt. Angesichts der hohen Arbeitslosigkeit sei das Verständnis der Bevölkerung für eine Marktöffnung für Produkte aus Osteuropa gering. Wer allen alles geben wolle, müsse auch sagen, wie das bezahlt werden solle.
Die stellvertretende SPD-Vorsitzende Heidemarie Wieczorek- Zeul warnte davor, die Reform der EU wie bereits beim Maastrichter Vertrag hinter hermetisch abgeriegelten Türen zu betreiben. Die Bevölkerung würde darauf erneut mit Unverständnis reagieren.
Für Bündnis 90/Die Grünen unterstrich Gerd Poppe, Ziel müsse eine weitere Demokratisierung der EU sein. Auch Hans Modrow (PDS/Linke Liste) kritisierte das Vorgehen der Bundesregierung beim letzten Gipfel auf Korfu.
Ungewohnte Einigkeit herrschte dann allerdings bei der Abstimmung zum Beitritt Österreichs, Finnlands, Schwedens und Norwegens zur Europäischen Union. Alle 573 Abgeordneten, die an der namentlichen Abstimmung teilnahmen, sprachen sich für den entsprechenden Gesetzentwurf aus. Die vier Staaten sollen am 1. Januar 1995 Mitglieder der EU werden. Während die Österreicher bereits am 12. Juni dem Beitritt mit großer Mehrheit zugestimmt haben, müssen die Wähler in Schweden, Finnland und Norwegen den Beitritt noch in Volksabstimmungen billigen.
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