In sieben Krisen um die Welt

Während man früher gerne mit Exotik in Berührung kam, brennt es heute vor der eigenen Tür: Die Heimatklänge '94 präsentieren Musik aus den Krisengebieten ums Mittelmeer  ■ Von Andreas Becker

Eigentlich sollte in diesem Jahr Brasilien dran sein. Das hätte einen hohen Exotikwert gehabt. Nun widmen sich die Heimatklänge '94 den Musiken der Länder rund ums Mittelmeer. Damit keiner meint, die könne er auch im Urlaub ausforschen, hat Heimatklang-Chefethnologe Borkowsky Akbar seine Spione zu einer Odyssee übers Mittelmeer auslaufen lassen. Das '94er Logo von Henning Wagenbreth hat ihnen den Weg gewiesen: Seine Sirene hat Flugzeugtragflächen, ist gleichzeitig Fisch, Frau und Boot, und hinter ihr her läuft ein kleiner, gefesselter Seemann.

Teil der Aufgabe scheint allerdings auch das musikalische Ausloten der Krisengebiete rund ums Mittelmeer gewesen zu sein. Es gibt einen zumindest ausgiebig assoziierbaren Reigen aus Pop, Politik und Krieg. Mittelmeer-Anrainer, deren Bürger im Moment friedliche Lebenszusammenhänge bevorzugen, wurden sehr konsequent ausgespart. Spanien ist nicht dabei — man hätte allerdings ebensogut eine ETA-unterstützende Punkband aus dem Baskenland einladen können – und auch Italien war nicht drin. Vielleicht kam Berlusconi einfach nur zu spät.

Griechenland dürfte sich nur Dank seiner durchgeknallten Pasok-Regierung und der heiklen Makedonien-Frage qualifiziert haben, die immerhin ein Potential für heraufziehende Konflikte darstellt. Der griechische Teilnehmer an diesem Roulette der verlorenen Come-Together-Utopien ist Nikos Papazoglou, ein Vertreter der jüngeren Generation aus Thessaloniki. Der Mann macht alles selbst. Er ist Sänger, Texter, Toningenieur, Arrangeur und sein eigener Produzent. Sein Rembetiko ist nicht gerade New Wave, klingt aber spannender als das, was bei unserem Griechen an der Ecke läuft. Die nächste Woche kann er in diversen griechischen Lokalen Berlins beweisen, ob es stimmt, was das Heimatklänge-Presseorgan verkündet: „Trotz seines großen Erfolgs meidet er die Scheinwerfer der Öffentlichkeit und geht lieber mit alten Freunden in der Taverne einen Wein trinken.“ Hoffentlich nicht auch von Mittwoch- bis Samstag abend und am Sonntag nachmittag (13.-17. Juli).

Weiter gehts durch Krisengebiete, in die sich tatsächlich kein Urlauber mehr traut. In der ersten Augustwoche ist es die Türkei. Das Land, das seine Gegner foltert und ausbombt, hat immerhin Yeni Türkü aus Istanbul zu ihrer Berlin- Premiere ins Tempodrom reisen lassen. Die vierköpfige Band, plus vier Mann Verstärkung, existiert bereits seit 1978. Sie vertont unter anderem Gedichte und Geschichten von Nazim Hikmet und Can Yücel. Yeni Türkü wurde von 1989 bis '91 dreimal hintereinander von der türkischen Presse zur besten Band des Jahres gewählt.

Jetzt, da Israel in Friedensverhandlungen mit der PLO steht, ändern sich auch die Vorzeichen des Auftritts von Shlomo Bar & Habbreira Hativ'it in der dritten Heimatklänge-Woche (20. - 24. Juli). Komponist, Sänger und Percussionist Shlomo Bar wurde in Marokko geboren und gilt als Vertreter des „anderen Israel“, das zwar nicht mehrheitsfähig, aber doch verträglich für Hardliner scheint. In seiner Musik verbinden sich Elemente der orientalischen Tradition der sephardischen Juden mit denen der europäisch orientierten Ashkenazi.

Bleiben noch drei Stationen. Die Region Makedonien (don't shoot me – gemeint ist nicht das in Griechenland!) mit ihrer Hauptstadt Skopje gehörte einmal zu Jugoslawien und gilt heute als die Hauptstadt der Gypsies. Ferus Mustafov spielt Saxophon und Klarinette und kommt mit einem zwölfköpfigen Ensemble nach Berlin (27. - 30. Juli).

Die letzte beiden Krisenregionen haben einen ganz speziellen Touch. Aus Tirana, Albanien, kommt die Truppe mit dem europaweit einmaligen Abgeschiedenheitsquotienten (dazu teilt man die Entfernung durch den Bekanntheitsgrad): das Orkestra Shqiponja de Tirana. In der letzten Woche dann eine Gruppe, die Spezialagent Uncle X, bekannt als einer von 3 Mustapha 3, in Beirut aufgespürt hat. „Onkel“ wie ihn alle liebevoll nennen, kam erst vor kurzem heil aus Beirut zurück, war aber noch sichtlich durcheinander. Der Bürgerkrieg sei im großen und ganzen vorbei, aber es gebe dort unten jetzt jede Menge Prostituierte. In einem zerschossenen Haus fand Onkel Matar Mohamed, einen Star, der seit dem Krieg wegen einer Krankheit nicht mehr auftrat und versteckt lebte. Zur Unterstützung bringt Matar seinen Sohn und seinen Enkel mit nach Berlin. Eigentlich kein Wunder, daß ein konsternierter Journalist die Heimatklang-Crew fragte, ob es in diesem Jahr besondere Sicherheitvorkehrungen gebe.

Heimatklänge '94, bis 28.8., incl. Heimatkino jeweils von Mittwoch bis Sonntag im Tempodrom, In den Zelten, Tiergarten