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Rätseln um den „Lieben Führer“

Mit dem Generationswechsel zu Kim Jong Il wird Nordkorea unberechenbar / Heute in Pjöngjang Wahl des neuen Staatschefs / Trauer um verstorbenen Kim Il Sung  ■ Aus Tokio Georg Blume

Der nordkoreanische Kommunismus lebt. Erstmals seit den Tagen des Wiederaufbaus in den fünfziger Jahren lieferte das nordkoreanische Staatsfernsehen am Sonntag authentische Bilder, die an einer echten Bewegung der Nordkoreaner für ihr diktatorisches Regime keinen Zweifel ließen. In Pjöngjang versammelten sich übers Wochenende Zehntausende trauernder Bürger vor der großen Bronzestatue ihres Führers Kim Il Sung. Viele Menschen waren dem Schluchzen nahe. „Weil wir Koreaner nicht gut genug waren, konnten wir ihm nicht helfen“, sagte eine in Tränen aufgelöste Frau vor der Kamera. Nach Regierungsangaben war Staatspräsident Kim Il Sung, der Nordkorea 46 Jahre lang regierte, bereits am Freitag im Alter von 82 Jahren an einem Herzanfall gestorben.

Die Reaktionen auf den Tod des von vielen gehaßten und gefürchteten Tyrannen fielen jedoch nicht nur in Nordkorea erstaunlich ernsthaft und beklommen aus. In Südkorea druckten die Zeitungen neutrale Titelmeldungen. Eine Erleichterung über den Tod des langjährigen Feind Nummer Eins, der mit seinem Angriff im Koreakrieg 1950 einst Millionen Tote über die Halbinsel gebracht hatte, war im Süden nicht mehr zu spüren. „Es ist schade, daß Kim ausgerechnet jetzt stirbt, wo ein Gipfeltreffen mit unserem Präsidenten bereits verabredet war“, teilte eine Angestellte in Seoul einer japanischen Zeitung mit. Damit traf sie die in Südkorea vorherrschende Meinung, derzufolge der alte Kim während seiner letzten Jahre eher als Garant denn als Feind der Entspannung eingestuft wurde.

War der „Große Führer“, der die Welt noch vor kurzem mit seinem geheimen Atomwaffenprogramm in Schrecken versetzte, also doch mehr Taube als Falke? Nicht anders schienen die westlichen Regierungschefs zu reagieren, die sich in Neapel zu ihrem jährlichen Weltwirtschaftsgipfel getroffen hatten. US-Präsident Bill Clinton und der japanische Premier Tomiichi Murayama zählten zu den ersten, die dem nordkoreanischen Volk ihr „Beileid“ aussprachen. Ihnen lag genauso wie der nordkoreanischen Regierung daran, dem immer wieder vorausgesagten Chaos nach dem Tod Kims entschlossen zu begegnen. So versicherte Clinton in Neapel, daß Pjöngjang gegenüber den USA bereits eine Bereitschaft zur Fortsetzung der gerade in Genf begonnenen bilateralen Gespräche über das nordkoreanische Atomwaffenprogramm signalisiert hätte. Ebenso sei der erste innerkoreanische Gipfel, der Ende des Monats in Pjöngjang stattfinden sollte, vom Norden noch nicht abgesagt worden.

Das nordkoreanische Regime tat seinerseits alles dafür, einen glatten Machtwechsel zu Kims designiertem Nachfolger, seinem 52jährigen Sohn Kim Jong Il, zwangsläufig erscheinen zu lassen. Denn an dem „Lieben Führer“, der von Diplomaten als Cognac- Liebhaber und unersättlicher Frauen-Konsument, aber auch als rücksichtsloser Einzelgänger und knallharter Reformgegner beschrieben wird, teilen sich die Meinungen aller Beobachter. Nur eines gilt als sicher und entlarvt die Verharmlosung allerorts: Während Vater Kim für sein Volk und das Ausland berechenbar war, ist es sein Sohn nicht mehr. Niemand weiß heute, was die Welt im hermetisch abgeschotteten Nordkorea erwartet.

Heute sollen in Pjöngjang das Zentralkomitee der kommunistischen Partei und das Nationalparlament zusammentreten, um Kim Junior, der in den Medien gestern bereits als „Großer Führer“ bezeichnet wurde, zum neuen Staatschef zu wählen. Der alte Kim hatte seinen Sohn bereits 1980 zum künftigen Landesvater auserkoren und Anfang der neunziger Jahre mit dem Amt des Parteichefs und Oberbefehlshabers der Armee betraut, ohne ihn jedoch in die Staatsspitze aufrücken zu lassen.

Westliche Nordkorea-Experten hatten diesen letzten Amtsvorbehalt gegenüber Kim Jong Il stets als Möglichkeit gedeutet, daß die alte Revolutionsgarde aus der Zeit des Befreiungskrieges im Todesfall von Kim Il Sung vielleicht doch noch dem Sohn die Macht entreißen könnte.

Immer wieder soll es in nordkoreanischen Führungskreisen Kritik am bevorstehenden Generationswechsel gegeben haben. Allerdings schreibt es die auch in Nordkorea beachtete konfuzionistische Tradition vor, daß ein Sohn seinen Vater erst nach dessen Tod ersetzen kann. Auch gab es Berichte, daß Kim Jong Il bereits in den letzten Jahren die Erledigung der täglichen Regierungsgeschäfte übernommen hatte.

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