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Der Berg ruft

Bei der 81. Tour de France beginnen heute die Kletterpartien mit der ersten Bergankunft in den Pyrenäen  ■ Von Ole Richards

Du quälst dich, der Schweiß fließt. Du verzerrst dein Gesicht vor Schmerz, deine Beine werden zu Klumpen. Du schaust hoch: kein Ende in Sicht. Du schaust zu ihm: keinerlei Regung im Gesicht. Erst jetzt bist du total erschöpft.“ So beschrieb der italienische Radprofi Claudio Chiapucci die Wirkung von Miguel Induráin. Wenn der Spanier selbst unter unmenschlichen Belastungen keine Miene verzieht, beginnen für seine Kontrahenten die Selbstzweifel. Chiapucci, ein ausgezeichneter Kletterer, der 1990 und 1991 das Bergtrikot der Tour de France gewann, gesteht, daß er Induráin in den Bergen kaum eines Blickes würdigt. Wenn die anderen sich schweißüberströmt schinden, ziert den großen Favoriten kaum der Hauch einer Wangesröte.

„Natürlich quäle ich mich genauso wie alle anderen“, sagt dieser, „aber deshalb muß ich doch keine Grimassen schneiden.“ Müssen muß er nicht. Vor allen Dingen muß er die Berge nicht fürchten. „Die Angriffe von Rominger und anderen werden kommen“, wußte „le roi“ Induráin nach seinem Zeitfahrsieg vom Montag, „aber alle Vorteile liegen bei mir.“ Am Sonnabend wird er 30, es ist hochwahrscheinlich, daß er auch diesen Geburtstag im gelben Trikot feiern wird. Mit einem außerirdisch guten Zeitfahren rollte Miguel Induráin in seine Lieblingsposition: Er muß seinen Vorsprung von 2:28 Minuten „nur“ verteidigen, die anderen müssen attackieren.

Der Spanier schleppt ab heute 80 Kilogramm durchs Hochgebirge, 15 Kilo mehr als Tony Rominger. Solange der Schönling aus Villava im gleichen Rhythmus fahren kann, ist er auch bei hoher Geschwindigkeit kaum abzuhängen. „Nur wenn man über lange Zeit auf hohem Niveau das Tempo wechselt, kann er in Schwierigkeiten geraten“, sagt Dr. Michele Ferrari, der Arzt vieler Top-Fahrer. Aber der dreimalige Tour-Sieger Induráin bleibt gelassen, obwohl auch er menschliche Regungen zeigt: „Gegen Ende der Rundfahrt werden die Berge immer schwerer. Dann wird entscheidend sein, wie man sich von Tag zu Tag retten kann.“

Die erste der vier Bergankünfte führt den Tour-Troß heute über 263 Kilometer von Cahors in den südfranzösischen Wallfahrtsort Lourdes-Hautacam. Auf den letzten zehn Kilometern wird den Profis ein Höhenunterschied von mehr als 1.000 Metern abverlangt. Letzter Sieger in Lourdes war der italienische Kletterkünstler Gino Bartali 1948, der insgesamt elfmal die Bergwertungen bei Tour, Giro und Tour de Suisse gewann. Die nächste Pyrenäen-Etappe führt am Freitag über den legendären Tourmalet (2.115 Meter) nach Luz Ardiden, wo Miguel Induráin 1990 gewann.

Während des Aufstiegs zum Tourmalet startete der Schweizer Bergspezialist Tony Rominger vor einem Jahr seine letzte verzweifelte Attacke gegen Induráin. Auf dem Gipfel hatte Rominger anderthalb Minuten Vorsprung, die der Spanier bei der Abfahrt allerdings scheinbar problem- und regungslos wieder aufholte. Damit war Romingers Angriffslust gebrochen. Der Schweizer gilt als bester Bergfahrer der Gegenwart, auch wenn er eher der Grimassenfraktion zuzurechnen ist. Wann immer Rominger das Tempo verschärfte, konnte ihm in dieser Saison bisher niemand folgen. Bei der Spanien- Rundfahrt im April gewann er überlegen alle drei Bergetappen. „Ich weiß, daß ich in den Pyrenäen Induráin durchschütteln muß, wenn ich ihn in den Alpen abhängen will“, umschreibt der 34jährige seinen Angriffsplan.

In den Alpen werden sich die Fans in der letzten Tour-Woche vor allem an den spektakulären Kletterpartien nach Alpe d'Huez (19. Juli) und Val Thorens (20. Juli) erfreuen. Spätestens bei diesem 36 Kilometer langen Aufstieg in die Höhe von 2.275 Meter, dem höchsten Punkt der Tour, wird sich zeigen, welche Außenseiter in den Kampf der Berggiganten Induráin und Rominger eingreifen können. Die Kolumbianer um den Vierten des letzten Jahres, Alvaro Mejia, vielleicht oder die neue italienische Hoffnung Marco Pantani.

Nachdem der 24jährige beim Giro beide Dolomiten-Etappen beherrschte, wurde in der italienischen Presse sofort mit Bergkönigen wie Jimenez, Herrera oder Fuente verglichen. Tatsächlich hat er Induráin in den Bergen beim Giro mehr als fünf Minuten abgenommen und gilt außerdem als einer der kühnsten Abfahrer im Feld.

Auf der 15. Etappe nach Carpentras werden sich die Briten auch noch einmal in die Schlagzeilen fahren. Allerdings nicht ruhmvoll wie Chris Boardman und Sean Yates als Träger des „maillot jaune“ auf den Flachetappen, sondern eher unrühmlich. Der Mont Ventoux ist jener „kahle Berg“, auf dem Tom Simpson 1967 bei großer Hitze zusammenbrach. Der Ex-Weltmeister, Sieger des schnellsten Mailand–San Remo- Rennens und Träger des gelben Trikots von 1962 starb nach einem Kreislaufkollaps auf dem Ventoux, weil er sich zu sehr mit Dopingmitteln vollgestopft hatte.

Auch heute zweifeln Mediziner, ob diese unmenschlichen Strapazen über mehrere Tage in den Bergen ohne „medizinische Nachhilfe“ überhaupt durchzustehen sind. Der Nebel des Dopingverdachts wird bleiben, wenn man ab heute die außergewöhnlichen Leistungen der Radprofis in den Pyrenäen bewundern wird.

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