: Jede Stunde 10.000 neue Flüchtlinge
■ In einer gigantischen Massenflucht versuchen Hunderttausende Menschen aus Ruanda über die Grenze nach Zaire zu gelangen / Eine Million Kriegsflüchtlinge auf den Straßen / Hilfsorganisationen überfordert
Nairobi/Goma (taz/AP/AFP) Die Zeit der traurigen Rekorde ist in Ruanda offenbar noch nicht vorbei. Angesichts des sich abzeichnenden völligen Zusammenbruchs der einstigen Regierungstruppen im Nordwesten des Landes bewegen sich nach Schätzungen von Hilfsorganisationen Hunderttausende von Menschen auf die Grenze Zaires zu. Seitdem die im Bürgerkrieg nunmehr siegreiche Rebellenorganisation RPF (Ruandische Patriotische Front) in der Nacht zum Donnerstag die nordwestliche Stadt Ruhengeri eingenommen hat und sich auf den Sitz der Rumpfregierung im 40 Kilometer entfernt liegenden Gisenyi zubewegt, ist nahezu die gesamte Bevölkerung der Region auf den Beinen.
Insgesamt ist von einer Million Menschen die Rede, die vor allem die Gegend um Gisenyi verstopfen. Tausende von Flüchtlingen überrannten gestern früh nach Angaben eines Rotkreuzsprechers einen zairischen Grenzposten nahe der zairischen Provinzhauptstadt Goma, der nur mit einem Soldaten besetzt war, und liefen in das Nachbarland hinein. Seitdem sollen stündlich zehntausend Ruander die Grenze überqueren. „Seit heute früh um vier Uhr kommt eine enorme Zahl über die Grenze“, sagte Panos Moumtzis, Sprecher des UN- Flüchtlingshochkommissariats (UNHCR), in Nairobi der taz. „Tausende und Abertausende sind überall in den Straßen von Goma.“ Die zairische Regierung habe angesichts des Ansturms die Grenze geöffnet.
Bei den Flüchtlingen handelt es sich vermutlich um nordruandische Hutus – Angehörige jenes Teils des ruandischen Mehrheitsvolkes, das vom ermordeten Präsidenten Juvenal Habyarimana immer besonders gefördert worden war und das die RPF am meisten fürchtet. Ob auch die Reste der einstigen Regierungsarmee und der für viele Morde verantwortlichen Milizen fliehen, um sich vor der RPF in Sicherheit zu bringen, ist noch nicht klar. Der UNO-Militärsprecher in Goma, Didier Bolelli, berichtete, Ruhengeri sei nahezu vollständig verlassen.
Die noch in Gisenyi residierenden Reste der einstigen Regierung rechnen offenbar mit dem raschen Fall auch dieser Stadt. Gestern morgen seien in Gisenyi Schüsse zu hören gewesen, erklärte der ebenfalls nach Goma geflohene einstige Arbeitsminister Jean de Dieu Habinza.
Gisenyi, einst ein Provinzstädtchen mit 50.000 Anwohnern, beherbergt nach Angaben von Emery Brusset, Leiter der UNO- Koordinationsstelle für die Ruanda-Hilfe in Nairobi, mittlerweile 800.000 Menschen. Die Hälfte der Flüchtlinge in Gisenyi, so Brusset, wolle nach Zaire weiterkommen. In die weiter südlich liegende französische „Schutzzone“ gingen die Menschen jedoch nicht, da Armeekreise berichtet hätten, die RPF sei auf der Straße dorthin bereits präsent.
Der Ansturm auf Zaire trifft die Hilfsorganisationen völlig unvorbereitet. „Wir fühlen uns etwas alleingelassen“, beschreibt Patrick Fuller vom Internationalen Roten Kreuz die Situation. Die zairische Provinz Kivu, dessen Hauptstadt Goma ist, war bisher für Hilfsorganisationen eher ein logistisches Rückzugsgebiet, wo auch Nahrungsmittel eingekauft werden konnten. Jetzt muß eine komplette Versorgungsinfrastruktur aus dem Boden gestampft werden. Fuller: „Jeder scheint überrascht worden zu sein. Niemand hat dort Vorräte gelagert.“ Befürchtet werden auch soziale Spannungen in einer Gegend, in der Konflikte zwischen einheimischen Völkern und zugereisten Ruandern schon in den letzten Jahren mehrere tausend Opfer gefordert haben.
Unterdessen traf der von der siegreichen Rebellenorganisation RPF designierte neue ruandische Ministerpräsident Faustin Twagiramungu in der ruandischen Hauptstadt Kigali ein. Bei seiner Ankunft erklärte er, die neue Regierung werde dem im August 1993 zwischen der RPF und der damaligen Regierung unterzeichneten Abkommen von Arusha über die Machtaufteilung entsprechen. bg
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