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Talfahrt ins Leben

Geboren wurde er in der DDR, wo Autorität die Menschen gefügig machte. Groß wird er in den Zeiten der unverbindlichen Regeln  ■ Von Annette Rogalla und Dietmar Gust (Fotos)

Manchmal, in unbeobachteten Augenblicken, fühlt sich Tobias trostlos. Dann reißt er sich den Turnbeutel vom Ranzen und schlägt ihn kräftig auf die Erde, er tritt ihn heftig vor sich her, prügelt ihn gegen die Wäschestangen. Dabei kommen ihm böse Flüche gegen alle über die Lippen, gegen Michael, den jüngeren Bruder. Ein Streuner. Gegen den kleinsten, Titus, den Hosenpisser von vier Jahren. Gegen die Mutter, die er morgens von der Couch treiben muß, weil sie nachts zuviel gebechert hat und wieder einmal nicht gewußt hat, wo ihr Bett steht. Tobias verteufelt sie alle. Einen Moment lang. Hinter den Wäschestangen ist alles vorbei. Wenn er in die Rittmeisterstraße biegt und seine Schule sieht, hat er sich wieder in Façon gebracht. Da fällt kein rasender Elfjähriger, wund vor Schmerz, im Klassenzimmer über seine Mitschüler her. Artig und aufrecht sitzt er in der Schulbank der Klasse 4e. Ohne Unterlaß schnellt sein Arm geräuschlos in die Höhe. Einen Tobias, der fingerschnalzend auf sich aufmerksam macht, kann sich die Lehrerin nicht vorstellen. „Tobias handelt kaum spontan und schießt niemals übers Ziel hinaus. Niemals.“

Von halb acht morgens bis zwei am Nachmittag verlangt er Bestleistungen von sich. Geht eine Mathearbeit daneben, und eine Drei ist daneben, verschwindet er auf die Toilette und kehrt leichenblaß zurück. Die Lehrerin beobachtet seine wechselnden Zustände. Daß Ehrgeiz krank machen kann, hat sie mit ihm nicht besprochen. Nur der Mutter hat sie einmal geraten, Tobias nicht aufs Gymnasium zu schicken. Schließlich sollen ihr, der Lehrerin, die Kolleginnen vom Gymnasium nicht nachsagen: „Was ist denn das für eine, die uns so einen schwachen Schüler schickt?“ Für seine Mitmenschen ist Tobias der Sanfte, Feingliedrige, „der Pflegeleichte“, wie die Lehrer sagen. Der am liebsten mit seinem Freund Marcel über den Schulhof spaziert. Der es nicht mag, wenn Jungs rumbolzen und rauhbeinig sind.

Tobias macht eine Schußfahrt durchs Leben. Die Lehrer beobachten es, wollen sich aber nicht einmischen. Im kommenden Monat lassen sich seine Eltern scheiden. Tobias und die beiden Brüder sind dann Scheidungswaisen.

Vor vier Jahren kündigte sich die Katastrophe an. Es beginnt um die Zeit, als Titus geboren wird. Freunde nennen das Kind, das einen Monat nach der Währungsunion zur Welt kommt, „Reimars Rache“, weil Vater Reimar im August 1990 bereits auf dem Westtrip ist und seine Familie vergißt. Die Nächte verbringt er in fremden Büros und installiert Computerprogramme. Tagsüber läßt er sich zum Steuerfachgehilfen ausbilden. Wie ein Donner fährt der Wandel der DDR-Gesellschaft in die Familie. Die Mutter sitzt mit den drei kleinen Kindern allein zu Hause, während der Vater nachholt, was er in der DDR nicht werden konnte. Seinen Blaumann von der Deutschen Post hat er gegen Schlips und Kragen getauscht, zunächst schafft er ein Auto an, dann ein Funktelefon. Der Versuch, sich als Spediteur selbständig zu machen, mißlingt. Die Ehe scheitert. Reimer ist heute 33 Jahre alt, Typ später Versicherungskarrierist, der im vergangenen Jahr endgültig beschlossen hat, daß Frau und drei Kinder zuviel sind für einen Mann, der weiterkommen will. In der Schule simuliert Tobias einen Vater. Daß der vor einer Woche ausgezogen ist, hat er nicht einmal seinem einzigen Freund Marcel anvertraut.

Würde Tobias heftig randalieren, seine Mitschüler quälen oder Autos klauen, müßte die Leherin den Apparat in Gang setzen, die Erziehungsberatung einschalten, den Schulpsychologischen Dienst anrufen. So zählt Tobias einfach nur zu denen, „die sich jetzt schwer zurechtfinden“. Er gehört zu jenen acht Kindern in der Klasse, deren Eltern sich seit der Wende haben scheiden lassen. Keiner von ihnen trägt die Kluft der Wohlstandskids. Die Esprit-Nike-Diesel-Kids sind in der Minderheit. Doch diese exklusiven Geschöpfe haben das Sagen in der Klasse. Wie Jens, der sein Kinderzimmer im Einfamilienhaus nicht mehr aufräumen muß. „Das erledigt jetzt unsere Putze.“ Gegen den schnippischen Aufsteiger setzt Tobias seine triumphierende Bescheidenheit. Nach der viertägigen Klassenfahrt gibt er von 22 Mark Taschengeld 17 der Mutter zurück – als Zuschuß zum Haushaltsgeld.

Er, seine Brüder und die Mutter finden keinen Auftrieb in der neuen Gesellschaft. Sie sind vier von 131.000 amtlich erfaßten Sozialfällen in Sachsen-Anhalt. Mit knapp 1.800 Mark muß die Mutter über die Runden kommen, alleine Wohnung und Kindergartenplatz für Titus verschlingen mehr als 800 Mark. Über die Themen Arm und Reich, DDR und BRD, Familie und Scheidung spricht niemand mit Tobias. In der Schule nicht, zu Hause nicht. „Die Kinder verkraften es besser, wenn man Scheidung und diese Dinge nicht anspricht“, sagt die Lehrerin. Wohlwollendes Desinteresse, die eigenen Lebensunsicherheiten kaschierend.

Tobias ist ein monotoner Mensch, jemand, der sich selbst auf ein Leben im Gleichlauf trainiert. Vorbereitet in den ersten fünf Jahren vom Drill der DDR-Du-darfst- nicht-und-mußt-auf-den-Topf-Erziehung. Wo steckt er die kindlichen Gefühlsausbrüche hin, wie Wut, Ohnmacht, Zorn, Haß und Tränen? Er gerät nicht über Abenteuerspiele ins Schwärmen, er gefällt sich in der Rolle des Fremdlings, den die Mitschüler hänseln. „Mädchen“, rufen sie hinter ihm her. Tobias, Kind baptistischer Eltern, wurde in den ersten Jahren streng religiös erzogen. Er fühlt sich als einziger in seiner Familie auserwählt für den Aufstieg in die Klasse der Wohlhabenden. Ihm soll gelingen, was sein Bruder nie erreichen wird. Michael, der es liebt, das Pferd seines Schulfreundes zu reiten, liegt oft in seinem Baumhaus und heult sich die Augen rot über seine kaputte Familie. Er ist es, der manchmal austickt. In einem Anfall hat er eine Fahrbahn mit Glasscherben übersät. „Aus dem wird nichts“, befindet Tobias kühl, „der ist viel zu disziplinlos.“ Er, der selbst in einem Orientierungsdilemma steckt, hält sich fest am Gestänge der Sekundärtugenden. Ordnung, Fleiß, Disziplin und Gehorsam müsssen sein, das sieht er so. Da kennt er auch kein Pardon den Brüdern gegenüber. Wehe, wenn Michael, der Achtjährige, mit schmutzigen Händen nach Hause kommt, dann zieht es was, „wenigstens eine Kopfnuß fängt er dafür“. Und wenn der kleinste, Titus, vergißt, seine Schuhe im Hausflur auszuziehen, dann wird er kurzerhand ausgesperrt. So lange, bis er schnaufend und rotzend an der Wohnungstür klopft. Beim Thema Ordnung ist er einer Meinung mit seiner Mutter, und bis sie am späten Nachmittag nach Hause kommt, vertritt er sie. Solange ist er der Boß.

Die Demütigung, dem abwesenden Mann die Hemden zu bügeln und ihm abends einen Teller mit Wurstbroten hinzustellen, ist bei Karin, der Mutter, im Laufe der Zeit in harte Wut umgeschlagen. „Es gibt Tage“, sagt sie, „da schlage ich die Kinder mit dem Schlappen, wenn ich zur Tür hereinkomme.“

Als abzusehen ist, daß der Mann die Familie verläßt, nimmt die 28jährige allen Schwung zusammen und meldet sich zu einem Fortbildungslehrgang als Werbekauffrau an. Sie, die mit 19 geheiratet hat, mit 20 ihr erstes Kind bekam und seit der Hochzeit nicht mehr berufstätig war, gewinnt an Zuversicht, das Leben in der neuen Zeit zu meistern, allein, ohne die Stütze Mann. Schon sieht sich Karin als Siegerin in der neuen Zeit.

In der Schule trifft sie andere Frauen, die ähnlich aufgefordert wurden, sich auf eigene Füße zu stellen. Mit ihnen schließt sie Freundschaft. Gegenseitig machen die Frauen sich Mut, mehr als nur Schule und Kinder zu erleben. In der Stadt eröffnet ein griechisches Restaurant, ein irischer Pub, Bars und Diskos. Die Nächte werden länger, die Rauschzustände liegen immer dichter.

Dreißig Fehltage läßt die Industrie- und Handelskammer bei der Abschlußprüfung durchgehen. In den ersten zwölf Monaten ihrer Schulzeit kommen vierzig Ausfalltage zusammen. Tage, an denen Sohn Titus mit Bronchialasthma im Bett liegt, Tage, an denen Karin sich partout nicht um sieben Uhr von der Couch bewegen will. So sehr Tobias auch an ihr rüttelt, die Mischung aus dem preiswerten Schmerzmittel Gelonida und billigem Wermut hält die Mutter in tiefem, empfindungslosem Schlaf. Mehr als einmal hat sie mit Suizid gedroht. Kommentar des grienenden Noch-Ehemanns: „So schnell stirbt's sich nicht.“

Je häufiger sie die leere Flasche und das Glas hinter dem Sofa weggräumen, desto mehr vermissen die Kinder die Wärme und Zuversicht der Mutter. In Tobias wächst die Erkenntnis, daß er „vernünftig bleiben muß“. Er hält die Fassade der Rest-Familie aufrecht. Mit kindlicher Disziplin arrangiert er den Tagesablauf. Punkt halb sieben steht er auf und weckt den kleinen Titus. Während der sich anzieht, bereitet Tobias ihm die Milchflasche. Den verschlafenen Michael muß er schon ziemlich stark drängeln, damit er aufsteht. Kurz vor sieben haben die jüngeren dem älteren Bruder ein picobello aufgeräumtes Kinderzimmer zu präsentieren, in dem nicht ein einziger Legostein in der Ecke liegen darf. Für ein Frühstück bleibt den beiden größeren Jungs keine Zeit. Nur manchmal, wenn die Mutter ihnen einen Trockenkuchen vorsetzt, krümeln sie ein paar Brocken in sich hinein. Erst in der Schule, weit nach 9 Uhr, beißt Tobias in eine zusammengeklappte Weißbrotscheibe, bestrichen mit Schokoladecreme. Drei Stunden muß die Pappstulle vorhalten. An den Mittagstisch für Schüler setzt er sich nicht. Die 30 Mark fürs Essen und 5,50 Mark für Schulmilch pro Woche für zwei Kinder sind der Mutter zu teuer geworden. Ohnehin, das Schulessen sei „nur selten genießbar, und deswegen ist es eine gute Sparmaßnahme“, meint Tobias. Zu Hause löffeln sie Milchsuppe mit Nudeln oder Schokoladensuppe. „Das ist billig und schmeckt.“ Tobias rechtfertigt jedes Zeichen der Katastrophe, in der er steckt. Wo auch immer, ob in der Schule, beim Flötenspiel oder beim Tanzen, er legt selbstverordnete Zuversicht an den Tag. „Wenn man vernünftig ist, schafft man es.“ Der Kinderkalender über seinem Schreibtisch hält eine fromme Durchhalteparole aus dem 1. Buch Mose parat: Kämpfe den guten Kampf des Glaubens.

Tobias glaubt an den Erfolg im Leben mit kalkulierbarem Risiko. Kinderarzt möchte er werden, angestellt im Krankenhaus. „Als Selbständiger ist es zu risikoreich, alle Geräte selbst zu kaufen.“ Das Dasein scheint für ihn eine Abfolge von Verhaltensweisen. Für den, der sie beherrscht, hält das Leben die Vorteile bereit. Also übt Tobias, frühzeitig.

Über seine kindlichen Ängste vor Hunden und anderen großen Tieren spricht er nicht gerne. Um die Hundephobie unter Kontrolle zu bekommen, spart er monatelang jeden Groschen und kauft für 25 Mark ein Zeichenblatt mit den Umrissen eines Bassets. Dessen Körperteile, eingerahmt in kleine Segmente, malt er akurat nach einem beigelegten Farbplan aus, gelbe Ohren, schwarze Schnauze. Furcht und der Ekel vor Hunden verschwinden danach immer noch nicht und halten an, als der Kläffer an die Wand genagelt wird. „Wenn ich den Hund immerzu angucke, verteibe ich meine Angst – irgendwann einmal“, sagt er. Seine gesamte kindliche Energie wandelt er um in eiserne Disziplin. Der Mutter will er die Zukunftsangst nehmen und den Brüdern den Vater ersetzen. „Er ist um mich besorgt wie ein Ehemann“, sagt sie.

Nachmittags, nach Schulschluß, wird aus dem braven überangepaßten Schüler ein hundsgemeiner Bruder. Dann heißt das Lieblingsspiel von Tobias: Michael beschatten. Wo immer er hingeht, er schleicht dem Bruder nach und macht Eintragungen in seinen Taschenkalender. „Du belauschst mich“, klagt Michael. „Es ist sinnvoll, wenn ich alle deine Verstecke kenne“, kontert Tobias. Wehrt sich der agile Michael gegen den Schatten, bestraft der Bruder ihn mit Essensentzug. Stundenlang kann Tobias vor dem Kühlschrank sitzen, bereit, seine Macht mit Fußtritten zu verteidigen.

In den Momenten voller Skrupellosigkeit und Sadismus spürt er sich selbst. Mit Macht verteidigt er die innere Einöde, die ihn gefangenhält. Er notiert die Abenteuer seines Bruders, weil er keine eigenen hat. Selbst seine Zukunft phantasiert Tobias in kontrollierten Räumen. „Wenn ich Arzt bin, lebe ich in einem Haus, in dem alle Türen mit Kameras überwacht werden. Ich mag keine Türklinken.“

Über sein Leben führt er Buch, feste Termine stehen im Taschenkalender. Montag bis Freitag: 15:30 Uhr Titus vom Kindergarten abholen, 16:00 Uhr Raumschiff Enterprise. Durch die Galaxien rauscht Dr. Prascha in die Glotze. Den Androiden, zuständig für Sicherheitsfragen auf der Enterprise, verehrt Tobias heiß und innig. „Weil er nicht lachen kann, der kennt nämlich keine Witze.“

Nach dem Doc, um 17 Uhr, prügelt sich Babs, das Comic-Häschen, über den Bildschirm. Mit geschickten Judogriffen streckt es ein fettes Monster mit gelben Ohren und lila Shorts nieder. Scheinheilig genießt Babs ihren Sieg: „Das Monster kann doch nichts für seine Situation, es ist doch auch nur ein Gefangener seiner Umstände.“ Das entlockt Tobias ein fröhliches Kinderlachen.

Dienstags lernt er zwischen 17:30 und 19:00 Tanzen. Da führt er Martina, die Tochter des Frisörs, „die schon 4.000 auf ihrem Sparkonto hat“, im Rumbaschritt übers Parkett. Ganz konzentriert lernt er die Schrittmuster, die ihn in die gehobene Gesellschaft führen.

„Entweder schafft er den Aufstieg, oder er endet als Amokläufer“, sagt die Klassenlehrerin. Aus dem Reich der leeren Regeln wird Tobias alleine nicht herausfinden.

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