: Rote Nelken für den Diktator
Der nordkoreanischen Gemeinde in Japan fällt Kritik am Regime Kim Il Sungs noch immer schwer / Auf der Trauenfeier flossen viele Tränen / „Der Vater ist uns gestorben“ ■ Aus Tokio Georg Blume
Kein Volk auf der Welt scheint derzeit so traurig zu sein wie die Nordkoreaner. Seit dem Tod von Staatspräsident Kim Il Sung am vorletzten Freitag haben sich in der Hauptstadt Pjöngjang täglich Zehntausende versammelt, um vor dem Zentraldenkmal und der nunmehr aufgebahrten Leiche des „Großen Führers“ Tränen zu vergießen. Am Wochenende meldete die nordkoreanische Regierung, daß die Begräbnisfeierlichkeiten für Kim von Sonntag auf Dienstag verschoben worden seien, weil die Zahl der Trauergäste kein Ende nehme. Westliche Beobachter erkannten dahinter bereits den Versuch von Kim Jong Il, dem Sohn und Nachfolger Kim Il Sungs, noch vor seinem Machtantritt eine Parteisäuberung durchzusetzen. Wie dem auch sei: die an den Westen übermittelten Bilder des nordkoreanischen Staatsfernsehens ließen in den letzten Tagen kaum Zweifel an der Authentizität der Trauer bei vielen Nordkoreanern.
Doch während sich über die Reaktionen in Nordkorea aufgrund der staatlichen Nachrichtensperre nur mutmaßliche Urteile treffen lassen, spielten sich ähnliche Szenen an diesem Wochenende in Tokio vor offenem Publikum ab. Die Gemeinde der Nordkoreaner in Japan ist groß: Von den etwa 700.000 seit dem Krieg in Japan lebenden Koreanern bekennen sich seit Ende der fünfziger Jahre ein Drittel zum Kim-Regime. Ihr Dachverband Chongryon, eine aus Pjöngjang ferngesteuerte Organisation, lud am Sonntag in Tokio seine Mitglieder zur letzten Andacht für Kim Il Sung. Und fast alle kamen.
Von zehn Uhr früh bis fünf Uhr nachmittags zog sich gestern ein kaum unterbrochener Trauerzug durch den Kita-ku, Tokios nördlichen Stadtteil. Alte Menschen in schwarzem Kleid und Anzug, ganze Familien mit kleinen Kindern und schließlich Schulklasse auf Schulklasse pilgerten zur nordkoreanischen Kulturhalle, dem größten Gemeinschaftsbau von Chongryon in Tokio. Dort erwartete sie ein straff organisiertes Programm, dessen Höhepunkt für jede und jeden darin bestand, vor dem überlebensgroßen Bildnis des „Großen Führers“, gebettet auf 20.000 Orchideen, eine rote Nelke abzulegen. Das Bild zeigte Kim in einem schlichten schwarzen Hemd mit rundem Stehkragen, im Alter von vierzig Jahren, also gerade dann, als er die nordkoreanischen Truppen im Koreakrieg befehligte. Den Krieg gegen Südkorea und die USA konnte er zwar nicht gewinnen, doch stammt aus dieser Zeit sein Ruhm als charismatischer Heerführer.
Ein schummriger nordkoreanischer Trauermarsch, sicherlich auch aus den fünfziger Jahren, nun gespielt von einem müden Studentenorchester, begleitete den endlosen Reigen der Verneigungen in der Kulturhalle. Sie galten nicht nur dem Verstorbenen, sondern auch jedem einzelnen der greisen Verbandsführer, die an diesem Tag die personelle Kontinuität des Kim-Regimes verkörperten und an denen sich jeder Trauergast einzeln mit gebücktem Rücken vorbeischieben muß.
Schon am Morgen hatte sich der Vizevorsitzende von Chongryon, Lee Jin Qu, in seiner Trauerrede weniger mit dem Erbe Kim Il Sungs als mit den glänzenden Zukunftsaussichten unter dem „neuen Großen Führer“ Kim Jong Il beschäftigt. Lee wollte offensichtlich der auch unter Anhängern des Kim-Regimes in Japan und Südkorea weitverbreiteten Skepsis gegenüber Baby Kim etwas entgegensetzen. „Es waren altmodische Worte, aber er wollte sagen: Es wird alles gut bleiben“, erklärt eine nordkoreanische Studentin mit dem obligatorischen Abzeichen Kim Il Sungs auf der Brust die 40minütige Trauerrede. Diese Ansprache — sie blieb die einzige — und die Schirmherrschaft der Gemeindeältesten kennzeichneten eine im wesentlichen auf konfuzianistischer Tradition beruhende Zeremonie.
Das wichtigste Wort des Konfuzianismus hatten denn auch alle Gäste auf den Lippen: „Der Vater ist uns gestorben“, „Unser Vater lebt nicht mehr unter uns“ — alle Begründungen für die Tränen, die an diesem Tag für Kim Il Sung flossen, begannen mit dem Verweis auf den Vater, der obersten Instanz des Konfuzianismus, abgesehen vom Kaiser. Natürlich flossen viele Tränen: Mütter und Großmütter, sie weinten laut und ausgiebig, die erwachsenen Männer reagierten etwas zurückhaltender, aber auch sie trugen zumeist ein Taschentuch am Auge.
Gestellt war das kaum. Zwar haben sich unter den Nordkoreanern in Japan auch immer wieder Kritiker des Kim-Regimes hervorgetan, deren Verwandte in Nordkorea zumeist in Arbeitslagern oder Gefängnissen auf Nimmerwiedersehen verschwanden. Doch solche Stimmen wurden dann von Japanern und anderen Ausländern stärker wahrgenommen als von den eigenen Landsleuten. Am gestrigen Tag freilich schienen die Regime-Treuen unter sich zu sein. Zwanzigtausend Gäste zählte man am Abend, was bedeutete, daß fast die gesamte Gemeinde aus der Tokioter Region gekommen war, die rund um die Hauptstadt achttausend Haushalte umfaßt.
Über ganz Japan verteilt fanden am Sonntag in allen großen Städten ähnliche Zeremonien statt.
Doch nicht nur Nordkoreaner trauerten — als geladene Gäste von Chongryon konnten sich am vergangenen Donnerstag in Tokio auch Ausländer in die Reihe der Kim-Pilger begeben. Vor der mächtigen Verbandszentrale, die in Tokio einen Quasi-Botschaftsstatus genießt, standen an diesem Tag die schwarzen Limousinen der dem nordkoreanischen Staat nicht ganz abgeneigten japanischen Politiker Schlange. Immerhin 150 Parlamentsabgeordnete sagten Kim auf diese Art und Weise Lebewohl. So legten die japanische Parlamentspräsidentin und führende Sozialdemokratin Takako Doi und der polnische Botschafter in Japan eine rote Nelke neben dem Porträtbildnis Kims nieder. Vor allem die Sozialdemokratische Partei Japans, aber auch Teile der Liberaldemokratischen Partei, die Japan heute gemeinsam regieren, unterhielten stets freundschaftliche Beziehungen zu Pjöngjang. „Ich bedanke mich im Namen unseres Vaters für Ihre Kondolenzen“, schluchzte Chongryon- Sprecher So Chung On bei der Verabschiedung der japanischen und ausländischen Gäste.
Da die meisten westlichen Länder in Pjöngjang über keine eigenständige diplomatische Vertretung verfügen, war die nordkoreanische Verbandsstelle in Tokio seit dem Tod Kim Il Sungs Drehscheibe für die Kontakte zwischen Nordkorea und dem Westen. Das Kommen und Gehen der Politiker, aber auch vieler ausländischer Geschäftsleute und Diplomaten zeugte hier davon, daß die nordkoreanische Diktatur längst nicht so isoliert ist, wie viele behaupten.
Gegenüber den verbreiteten westlichen Karikaturen von Baby Kim versuchte So Chung On, Kim Jong Il als besonnenen Staatsmann zu porträtieren. „Kim Jong Il hätte Jimmy Carter in Pjöngjang genauso wie sein Vater empfangen“, beschwichtigte der Verbandssprecher. „Nur der Respekt vor der älteren Generation hielt ihn bislang in der zweiten Reihe zurück. Ich weiß, daß der Dialog mit den USA sehr bald fortgeführt wird, wenngleich ich über die Zukunft der Gespräche mit Südkorea noch nichts sagen kann.“
Gerade an den ersten innerkoreanischen Gipfel, der Kim Il Sung erst vor wenigen Wochen vorgeschlagen hatte, knüpften aber die Nordkoreaner ihre Hoffnungen. Tatsächlich hatte die nordkoreanische Staatspropaganda, die den Süden bislang in Bausch und Bogen verurteilte, während der letzten Wochen eine weitaus freundlichere Tonart angestimmt. „Wir dachten alle, daß bei diesem Treffen irgend etwas passieren mußte. Wenn Kim Il Sung doch nur so lange gelebt hätte“, überlegte am Samstag die 45jährige Lehrerin Hyon Hyan Cil, eine freiwillige Anhängerin der nordkoreanischen Diktatur, deren Eltern während des Krieges von den japanischen Kolonialherren als Zwangsarbeiter nach Japan verschleppt worden waren.
Beim Besuch der Schulklasse Hyons im Westen Tokios ließ sich besser als während der Trauerfeiern feststellen, welche Gefühle viele Nordkoreaner hinter dem Kim-Regime vereint. „Nordkorea muß sich ganz allein gegen die ganze Welt wehren, während Südkorea und Japan immer nur das tun, was die Amerikaner sagen“, erklärte die Lehrerin Hyon. Von aller Welt verlassen fühlten sich an diesem Tag auch die nordkoreanischen Schüler und Schülerinnen in Tokio. In der japanischen Hauptstadt hatten sich in jüngster Zeit Fälle gehäuft, in denen die wegen ihrer traditionellen Schuluniform erkennbaren nordkoreanischen Mädchen von Japanern tätlich angegriffen wurden. Von den nordkoreanischen Schülern wagte sich seither in Tokio niemand mehr allein auf die Straße. „Die Japaner betrachten uns immer noch als minderwertige Menschen“, urteilte eine 16jährige Oberschülerin, die selbst Opfer eines gewalttätigen Angriffs wurde. Auch sie bezeichnet übrigens Kim Il Sung als ihren Vater.
So verband bisher eine merkwürdige Treue die in Japan lebenden Nordkoreaner mit ihrer kommunistischen Diktatur. Viele von ihnen stammten sogar aus Südkorea, schlossen sich aber nach dem Krieg dem Kim-Regime an, weil es ihnen politisch glaubwürdiger als das damals von den USA ferngesteuerte Militärregime in Seoul erschien. Außerdem gründete sich ihre Treue gegenüber Kim auf einem gespaltenen Verhältnis zum Gastland Japan, in dem die koreanische Minderheit vor offener Diskriminierung immer noch nicht sicher ist. Südkorea aber, das neben den Feindbildern Amerika und Japan heute für sich selbst sprechen könnte, dürfen die Nordkoreaner in Japan bislang nicht besuchen.
„Als ich dreizehn war, reiste ich mit dem Schulchor nach Nordkorea, und wir sangen dem Präsidenten Kim Il Sung unsere Lieder vor“, erzählte die nordkoreanische Oberschülerin. „Er schüttelte mir damals sogar die Hand.“ — „Ach, wie gerne hätte ich Kim Il Sung einmal selbst gesehen“, sagte am Sonntag eine junge Studentin nach den Trauerfeiern. Solange diesen Mädchen der „Große Führer“ in väterlicher Erinnerung ist, bleiben die Voraussagen über das schnelle Ende des Kim-Regimes nach dem Tod seines Schöpfers wagehalsige Mutmaßungen.
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