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■ Der neue EU-Kommissionspräsident erregt die GemüterLoblied auf einen netten Schwächling

Starker Tobak, was sich der künftige EU-Kommissionspräsident Jacques Santer zur Zeit so alles anhören muß. Er sei eine lahme Ente, heißt es, ein beschränkter Provinzler, der das Ende der Kommission als europäische Triebkraft einleiten werde. In Wirklichkeit sollte die Kritik nicht Santer, sondern vor allem Major und Kohl treffen, die mit ihrem Veto die höher eingestuften Kandidaten Lubbers und Dehaene verhindert hatten. Man schlägt den Sack und meint den Esel. Die ganze Diskussion krankt daran, daß nicht mit offenen Karten gespielt wird, daß sich keine der Regierungen traut zu sagen, wie der neue Kommissionspräsident denn aussehen soll. Als ob die EU noch einmal einen Mann wie Delors bräuchte. Als ob sich die Zeiten nicht geändert hätten.

Delors hat die Europäische Gemeinschaft nach einer langen Phase der Eurosklerose wieder auf die Beine gestellt. Er hat die Kommission gestrafft und aufgewertet. Aber nach zehn Jahren Delors hat die Europäische Union vorne eine starke Lok und hinten das Problem, daß die Passagiere reihenweise aussteigen. Noch nie war die Skepsis in der Bevölkerung gegenüber Europa so groß.

Santer ist in vielem das genaue Gegenteil von Delors und gerade deshalb für die nächsten Jahre nicht der Schlechteste. Die Kommission hat genügend Kompetenzen, sie braucht keinen Machtmenschen, der ihr neue Bereiche erkämpft. Wenn Delors gut gearbeitet hat, dann funktioniert sie auch ohne ihn. Die heute anstehenden Entscheidungen über die Zukunft Europas fallen ohnehin nicht in der Kommission, sondern zwischen den zwölf Regierungen. Was die Kommission braucht, ist ein Chef, der die Kluft zwischen Brüssel und den 320 Millionen verkleinert, denen der ganze Laden zu abgehoben ist. Santer ist kein Kommunikator, aber er kommt dem Bild des Vermittlers näher als alle anderen Kandidaten.

In jedem Fall kommt mit Santer wieder ein echter Europäer an die EU-Spitze, schon weil einem Luxemburger wenig anderes übrigbleibt, als vier, fünf Sprachen zu sprechen. Delors war in erster Linie Franzose in Brüssel, der die Brüsseler Kommission zum Spiegelbild der französischen Verwaltung ausgebaut hat. Im Gegensatz zu Santer verfügte Delors mit Frankreich im Rücken über eine starke Hausmacht. Er hat sie nicht nur zur Stärkung der Effizienz genutzt: fast alle wichtigen Schlüsselposten in der EU-Kommission sind mit seinen Landsleuten besetzt. Santers Hausmacht kann nur das Europäische Parlament sein, das er von innen kennt und dessen Vizepräsident er einige Zeit lang war. Delors hat das Parlament immer nur als lästiges Hindernis gesehen.

Es ist die Chance des Parlaments, das immer nur dann an Macht gewonnen hat, wenn entweder der Ministerrat oder die Kommission von ihrer Machtfülle etwas abgegeben haben. Daran wird sich das Parlament erinnern müssen, wenn es am Donnerstag über Santer abstimmen wird. Alois Berger, Brüssel

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