: Abwehr wirft das Fischernetz
Im Beinlabyrinth gefangen: Erst im Elfmeterschießen kann sich Brasilien im WM-Finale gegen ein hasenfüßiges Italien durchsetzen ■ Aus Pasadena Matti Lieske
Hätte sich Roberto Baggio nicht so schrecklich gegrämt, man hätte fast meinen können, er habe als fairer Sportsmann den Strafstoß, der Brasilien endgültig zum Weltmeister machte, absichtlich in einen der vielen gelbgrünen Fanblocks statt ins Tor geschossen.
Schlimm genug, daß zum ersten Mal ein WM-Finale im Elfmeterschießen entschieden wurde, noch schlimmer wäre es gewesen, wenn Italien, das dieselbe unwürdige Hasenfüßigkeit wie die Schweden im Halbfinale an den Tag legte, dieses gewonnen hätte.
1998 in Frankreich wird die leidige Strafstoßentscheidung, Zuflucht der Ängstlichen und Minderbemittelten, wohl endlich durch den „Sudden Death“ ersetzt worden sein, fast wäre die FIFA damit in traditioneller Verschlafenheit vier Jahre zu spät dran gewesen. Aber die Sache ging gerade noch mal gut. Außer Baggio scheiterten auch Baresi und Massaro, das weitaus beste Team des Turnieres trug am Ende mit 3:2 den Sieg davon. Brasilien wurde, wenn auch auf etwas schmähliche Weise, zum vierten Male Weltmeister.
Die Nachfahren Pelés verdienen den Titel allein schon deshalb, weil es dem Team gelang, jeden Gegner so einzuschüchtern, daß dieser sich kaum aus seiner Spielhälfte getraute und seine ganze Hoffnung auf strikte Defensive, ein eventuelles Glückstor sowie das Elfmeterschießen setzte. Die Italiener waren die ersten, die mit dieser Taktik fast durchkamen, was daran lag, daß sie über die wesentlich besseren Abwehrspieler verfügen als die Schweden oder die Niederländer.
Dichtes Beinlabyrinth
„Wir spielen wie immer“, hatte Italiens Trainer Arrigo Sacchi, eigentlich ein Freund des Offensivfußballs, vor dem Match gesagt, „wir verteidigen mit elf Leuten und wir greifen mit elf Leuten an.“ Pustekuchen. Umgesetzt wurde in der Rose Bowl von Pasadena zum Leidwesen der 94.158 Zuschauer nur der erste Teil der Aussage, und das Finale von 1994 ähnelte in seiner partiellen Ödnis fatal dem von 1990. Eine Mannschaft berannte pausenlos das Tor der anderen, ohne sich gegen die 22beinige, elfköpfige und zweiarmige Abwehr des Gegners den Raum zu jenem erlösenden Torschuß verschaffen zu können, der das Match umgekrempelt hätte. Das Glück der Deutschen, die vor vier Jahren durch einen geschenkten Elfmeter gegen Argentinien gewannen, blieb den Brasilianern gegen Italien jedoch versagt.
Vorwerfen kann man ihnen wenig. Die meiste Zeit hatten sie den Ball, und sie probierten alles aus: Doppelpässe durch die Mitte, Spiel über den rechten Flügel, Spiel über den linken Flügel, hohe Flanken, flache Flanken, Fernschüsse, Dribblings, lange Bälle, doch alles wurde früher oder später eine Beute der versierten Abwehr um die aufmerksamen Mailänder Franco Baresi und Paolo Maldini. Dabei kam den Italienern zugute, daß es Brasilien an findigen Mittelfeldspielern mit der Fähigkeit zum listigen Paß gebrach und vor allem an einem Angreifer, der nur einen Hauch jener Gefährlichkeit besitzt, die Romario an den Tag legt.
So war es nicht nur ein Spiel auf ein Tor, sondern ein Spiel auf einen Mann. Italiens Verteidigung glich einem Fischernetz, das sich immer enger um Romario zusammenzog, je näher der Ball dem Tor von Gianluca Pagliuca kam. Am Ende waren meist drei oder vier Gegenspieler bei ihm, die ein dichtes Beinlabyrinth errichteten, das auch der mit dem Ball verwachsene Wirbelwind vom FC Barcelona nicht zu durchdringen vermochte. Seine große Chance bekam Romario erst in der dank Kräfteschwund recht munteren Verlängerung, als er eine der brisanten Cafu-Flanken knapp neben den Pfosten setzte.
„Wenn zu einem Zweikampf nur einer kommt, kann es keinen Zweikampf geben“, zitierte Brasiliens Coach Carlos Alberto Parreira ein Sprichwort seines Landes, und so wurde das angekündigte „offene Spiel“ (Arrigo Sacchi) besonders in der zweiten Halbzeit, als sich die Italiener nur noch sehr schüchtern über die Mittellinie wagten, eine ausgesprochen zähe Angelegenheit. Die anfangs so überschäumende Stimmung im Stadion erreichte angesichts der beständigen, aber fruchtlosen Angriffe der Südamerikaner langsam das Niveau einer Bundesligapartie zwischen Bayer Uerdingen und Wattenscheid 09, sogar die Samba- Trommeln der brasilianischen Anhänger, die Ungutes befürchteten, waren verstummt.
Ihr mißtrauisches Augenmerk galt dem bezopften Manne mit der Nummer 10, Spezialist für plötzliche Tore in letzter oder vorletzter Minute. Doch es war nicht der Tag des Roberto Baggio. Dreimal bekam er in guter Position den Ball, aber er schoß drüber (82.) oder scheiterte an Torwart Taffarel (97./112.). Der gute Geist, der ihm in den letzten Partien so treu an der Fußspitze klebte, hatte sich im ungünstigsten Moment verflüchtigt und war bis zum fatalen fünften Elfmeter nicht wiedergekehrt.
Dafür der von Romario, dessen Strafstoß den Innenpfosten rasierte und von dort ins Tor sprang. Eine glückliche Fügung, die möglicherweise auf den Segen zurückzuführen ist, den Romario im Trainingslager in Santa Clara von einem indianischen Schamanen aus dem Amazonasgebiet verabreicht bekam. Dieser weilte eigentlich in San Francisco, um gegen die Zerstörung des Regenwaldes zu agitieren, ließ es sich aber nicht nehmen, ganz nebenbei dem brasilianischen Team zur Weltmeisterschaft zu verhelfen.
„Es ist ein wohlverdienter Titel“, stellte Stürmer Bebeto, neben Romario Inhaber des zweiten guten Geistes im brasilianischen Team, klar, auch wenn es traurig sei, daß das Spiel durch Elfmeter entschieden wurde. Weniger Einsicht zeigte Arrigo Sacchi, der den Fußball gern zur Kunstform erhebt. Er erdreistete sich gar, von einem „ausgeglichenen Match mit Meisterschaftskaliber“ zu reden. Ein Fußballspiel sollte sein „wie ein Abend in der Mailänder Scala“, hat der italienische Coach mit dem wissenden Lächeln einmal gefordert. Was sein Team in Pasadenas Rose Bowl bot, hätte nicht einmal für das Schlagerfestival von San Remo gereicht.
Stimmen zum Spiel:
Carlos Alberto Parreira, Trainer der Brasilianer: „Ein Elfmeterschießen ist kein idealer Weg, um einen Weltmeister zu küren. Brasilien hat ein so großes Potential an Spielern, daß ich fünf weltmeisterschaftsreife Mannschaften hätte nominieren können. Bei meiner konsequenten Linie war ich wie Frank Sinatra: ,I did it my way‘.“
Arrigo Sacchi, italienischer Coach: „Es war eine sehr schwierige WM für uns, aber für mich eine begeisternde Erfahrung.“
Antonio Matarrese, Fußball-Präsident Italiens: „Wir haben in der ganzen Welt großen Applaus verdient. Wir haben gegen Brasilien nicht verloren. Die Elfmeter sind ein Fluch für uns.“
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