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Sauftour für den Aufschwung

■ Trinkfreudige Finnen erleichtern Estland den Übergang zur Marktwirtschaft / Die baltischen Republiken werden von der EU Polen und Tschechien gleichgestellt

Berlin (taz) – Für die baltischen Regierungen sind sie ein weiterer Schritt nach Westen: die Freihandelsabkommen mit der EU, die ab 1. Januar 1995 gelten sollen. Mit den Freihandelsabkommen werden die drei früheren Sowjetrepubliken gegenüber der EU den ost- und mitteleuropäischen Ländern gleichgestellt. Der erste dieser Verträge wurde gestern zwischen der EU und Lettland in Brüssel unterzeichnet, der mit Litauen soll am 27. Juli folgen, und die Verhandlungen mit Estland stehen nach Aussagen der EU-Kommission vor dem Abschluß.

Nach dem Abkommen mit Lettland soll in den nächsten vier Jahren eine Freihandelszone für gewerbliche Waren in der baltischen Republik geschaffen werden. Die Europäische Union verspricht, mit Inkrafttreten des Abkommens ihre Handelsbeschränkungen zu beseitigen, den Letten wird zugestanden, ihre Importzölle in den nächsten vier Jahren nach und nach abzubauen. Für Agrar- und Fischereierzeugnisse handelte die EU Zugeständnisse der Letten heraus. Auch für Textilien, deren Import die EU ebenso gerne verhindert, wurde ein Extra-Abkommen unterzeichnet.

Die drei Miniländer an der Ostsee mit zusammen acht Millionen Einwohnern haben untereinander bereits am 1. April sämtliche Handelsschranken fallen lassen. Anders als den übrigen zwölf UdSSR- Nachfolgestaaten scheint es den Esten, Letten und Litauern zu gelingen, die eigene Volkswirtschaft auf EU-Europa und Skandinavien zu orientieren. Für Estland ist schon 1993 Finnland zum wichtigsten Handelspartner geworden, mit dem 40 Prozent des Außenhandels abgewickelt wurden.

Je kleiner, je nördlicher und je tiefer der eisfreie Ostseehafen, desto schneller gelingt offenbar der baltische Übergang zur Marktwirtschaft: Die 1,5 Millionen Einwohner Estlands werden als erste der früheren Sowjetmenschen die Transformationskrise hinter sich lassen, gefolgt von der Bevölkerung Lettlands. Die Litauer folgen mit einigem Abstand, denn ihre Hauptstadt Vilnius ist leider keine Ostsee-Hafenstadt. Alle drei Länder haben nach ihrer Unabhängigkeit auf die Schocktherapie gesetzt. Anders als den GUS-Staaten gelang es ihnen, ihre neuen Rubel- unabhängigen Währungen knapp zu halten und damit die durch die Preisfreigabe ausgelöste Inflation vergleichsweise schnell in den Griff zu bekommen. Außerdem kopierten sie, mit aktiver Unterstützung aus Frankfurt/Main, das Modell Bundesbank: Die Regierungen haben keinen Zugriff auf die Notenbankpolitik. Sie können sich also nicht nach eigenem Gütdünken frisches Geld drucken, um damit Löcher in den Staatshaushalten zu stopfen.

Die besten Startbedingungen in die Marktwirtschaft hatte Estland, das bereits in diesem Jahr den Beginn eines Wirtschaftswachstums registriert. Die kleinste Baltenrepublik bekam 11,3 Tonnen Gold zurück, die seine Vorkriegsregierung vor dem Einmarsch der Deutschen außer Landes geschafft hatte. Das Gold diente zusammen mit den Devisenreserven als Absicherung der im Juni 1992 eingeführten estnischen Krone, deren Umtauschkurs zusätzlich an die D- Mark gekoppelt wurde.

Daß Estland seine Devisenreserven bis Anfang 1994 auf 655 Millionen Mark vervierfachen konnte, ist der Tatsache geschuldet, daß die Hauptstadt Tallinn mit ihrem eisfreien Tiefseehafen an der schmalsten Stelle des Golfs von Finnland Helsinki gegenüberliegt. Die Sauftouren der Finnen tragen so erheblich zu den unter „Tourismus“ gebuchten Deviseneinnahmen bei.

So günstig liegen Lettland und Litauen nicht, und auf im Ausland verborgene Schätze durften die Regierungen in Riga und Vilnius ebenfalls nicht hoffen. Dennoch haben es auch ihre Notenbanken geschafft, die Inflation zu dämpfen. Die jeweiligen Regierungen setzen auf Sparsamkeit.

Diese Austeritätspolitik geht, wie überall auf der Welt, zunächst zulasten der ärmeren Bevölkerungsschichten. Wer arbeitslos wird, und das sind in den Übergangswirtschaften viele, stürzt wegen der geringen Sozialleistungen in die Armut. Donata Riedel

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