Militärsoziologie als geheime Zunft?

Mit dem Umzug des Münchener Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr ins „geistige Zentrum“ nach Strausberg bei Berlin sollen kritische Armee-Wissenschaftler kaltgestellt werden  ■ Von Martin Schröder

In Strausberg vor Berlin findet sich außer Gras, Gebüsch und Militär nichts von Bedeutung. Der Bahnhof Strausberg-Nord, den der Besucher des neuen „geistigen Zentrums“ der Bundeswehr erreicht, ohne Telefon, Fahrplan, Auskunftsperson, signalisiert das Ende der Welt. Er ist die letzte Bastion von zivilem Chaos. Alle vierzig Minuten erreicht eine S-Bahn die Station. Strausberg-Nord ist eingleisig verbunden mit dem Rest der Welt. In Strausberg-Nord wohnt niemand, hier ist Armee stationiert. „Vorsicht! Schußwaffengebrauch!“ warnt auf Schildern der „Standortälteste“ allenthalben an Mauern und Zäunen.

Strausberg wurde 1714 unter Friedrich Wilhelm I. Garnisonsstadt. Mitte der dreißiger Jahre dieses Jahrhunderts erhielt die Stadt eine Munitionsfabrik; Kasernenanlagen und ein Militärflugplatz entstanden. Seit 1956 war Strausberg Sitz des Ministeriums für Nationale Verteidigung der DDR, Führungszentrum des DDR-Militärs. Viele Offiziere, die hier arbeiteten, hatten auch ihren Wohnsitz nach Strausberg verlegt, die NVA war größter Arbeitgeber der Region. Wer früher als Wehrpflichtiger im Ausgang durch Strausberg ging, konnte die Hand gleich an der Schirmmütze lassen, jeder dritte Passant war militärischer Vorgesetzter.

Nach der Wende hat hier die Bundeswehr die Immobilien von Wehrmacht und NVA übernommen. Die militärische Führung hat kein Interesse, diesen Ort zu entmilitarisieren. Heute ist Strausberg Sitz pensionierter Generäle und Offiziere. Gelobt wird von der Kommune vor allem die „reizvolle Landschaft“ am Straussee, die touristisch erschlossen werden soll. Wirtschaftlich sieht es eher schlecht aus. Im Norden gibt es nun einen 65 Hektar großen „Gewerbepark“, doch außer zwei Autohäusern, einer Autolackiererei und einer Kunststoff-Firma hat sich bisher niemand hier niedergelassen. Von den 28.000 Einwohnern der Stadt arbeiten 2.500 Zivilbeschäftigte bei des Bundeswehr. Die offizielle Arbeitslosenquote liegt bei zwölf Prozent.

Ausgerechnet hier, im ehemaligen Tagunszentrum (TAZ) der NVA-Führung, hat die Bundeswehr ihr „geistiges Zentrum“ eingerichtet. Zu befürchten ist dabei aber eine geistige Austrocknung der Bundeswehr.

Im Juni wurde die aus Waldbröl im Oberbergischen Land bei Köln nach Strausberg umgezogene Akademie für Information und Kommunikation (AIK) der Bundeswehr eröffnet. Verteidigungsminister Rühe (CDU) war dabei und hat damit gezeigt, wie wichtig der militärischen Führung sowie der Bundesregierung dieses „geistige Zentrum“ ist. Ein Fanfarenzug leitete die Feierstunde zur Arbeitsaufnahme des Zentrums ein, Wissenschaftler waren unter den Rednern nicht zu hören. 35 Militärs aus Waldbröl und 45 Zivilisten aus Strausberg, die früher in NVA- Diensten standen, sind in der Agitationsfabrik der Bundeswehr tätig. Diese Akademie verdient ihren Namen nicht. Philosophie wird in Strausberg nicht gelehrt, die AIK bildet Bundeswehrangehörige in Sachen Presse- und Öffentlichkeitsarbeit aus. Überdies sollen „Multiplikatoren“ wie Pädagogen und Gewerkschafter in Seminaren zu Sympathieträgern der Bundeswehr gemacht werden.

Zweiter Baustein des „geistigen Zentrums“ ist der Breich 5 des Zentrums Innere Führung (ZInFü) der Bundeswehr mit zehn aus Koblenz abgeordneten uniformierten und zivilen Mitarbeitern. Die Innere Führung wird von der Bundeswehr als ihr Markenzeichen angesehen. Der Begriff steht für ein Höchstmaß an Freiheiten der Soldaten und die Garantie aller verfassungsmäßigen Rechte. Die Praxis sah vor allem zu Gründungszeiten der Bundeswehr anders aus. Drill war in der Ausbildung der ehemaligen Wehrmachtsoffiziere die einzige Methodik. Im April begann in Strausberg der erste ZInFü-Lehrgang für Kommandeure. Neben der Grundlagenarbeit, also der Ausbildung von Kompaniechefs und Kompaniefeldwebeln im Fach „Innere Führung“, soll von Strausberg aus die Zusammenarbeit mit verbündeten Streitkräften ausgebaut werden.

Für die wissenschaftliche Seite des „geistigen Zentrums“ ist das 1974 unter der SPD-Regierung gegründete Sozialwissenschaftliche Institut (SOWI) des Bundeswehr in München vorgesehen. Das SOWI ist die einzige Institution des Bundesrepublik, in der Militärsoziologie betrieben wird, sowohl in der Grundlagenforschung als auch in empirischen Untersuchungen. Es gibt in Deutschland keinen Universitätslehrstuhl für Militärsoziologie.

Die Arbeit des SOWI ist problemorientiert und deshalb nicht gern gesehen in der Bundeswehrführung. Wenn es in der Öffentlichkeit empirisch oder statistisch abgesicherte Kritik an der Bundeswehr gibt, kann die nur aus München kommen. Erforscht werden militärspezifische soziologische Fragestellungen, also zum Beispiel das Freizeitverhalten junger Soldaten, die Einstellungen gesellschaftlicher Gruppen zum Militär, empirische Untersuchungen werden gemacht zur Rekrutierung des Offizierskorps. Die letzten beunruhigenden Meldungen aus dem SOWI verweisen darauf, daß die Bundeswehr vor allem für rechtsextrem orientierte junge Männer Anziehungskraft hat.

Die Münchener Wissenschaftler wehren sich gegen die Verlegung ihres Instituts zur PR-Abteilung AIK nach Strausberg. Nach Potsdam wäre man ja gezogen, denn dort befinden sich das Militärgeschichtliche Forschungsamt, das ohne sein Archiv (sic!) von Freiburg umziehen mußte, sowie eine Universität. Aber Strausberg kommt auch territorial einer geistigen Trockenlegung gleich. Die Nähe Berlins als Argument für Strausberg lassen die Münchner Soziologen nicht gelten, in der bayerischen Metropole haben sie Universitäten und Bibliotheken vor der Haustür. Daß Rühe auch eine „Fachinformationsstelle“ in Strausberg einrichten lassen will, reicht den Forschern nicht. Es handelt sich um eine derzeit in Dresden beheimatete Bibliothek, die durch einen Umzug auf Jahre hinaus nicht nutzbar wäre. Ebenso wie die Münchner wollen auch die Dresdener nicht nach Strausberg.

Nach dem Willen Volker Rühes soll ein über 50 Millionen Mark teurer Neubau ab 1998 die Münchner Wissenschaftler und ihre Bücher aufnehmen. Das ist dem Verteidigungsminister aber nicht schnell genug. Noch in diesem Jahr, so hat er verfügt, müssen die Forscher umziehen: in ein Gebäude des ehemaligen NVA-Ministeriums, in dem früher Krieg auf Karten trainiert wurde und das von Mauern und Stacheldraht umgeben ist. Dieses Haus wird für 1,7 Millionen Mark provisorisch hergerichtet.

In der Verlegung des Instituts sieht der Leiter des SOWI, Professor und Direktor Bernhard Fleckenstein, eine politische, keine Sachentscheidung. Über Jahre hinweg sollen die Wissenschaftler unter unzulänglichen Verhältnissen arbeiten und – da Wohnungen nicht zur Verfügung stehen – in Notunterkünften wohnen. „Wir leben doch nicht in der Nachkriegszeit“, sagt Fleckenstein. Der Bitte des Direktors an den Verteidigungsminister, ein Gutachten des Deutschen Wissenschaftsrates einzuholen, kommt Rühe nicht nach. Die Wissenschaftler wandten sich an den Petitionsausschuß des Bundestages mit der Forderung, die Verlegung wenigstens auf das Jahr 1998 zu verschieben, wenn die Rahmenbedingungen geschaffen sind. Die Volksvertreter hielten die Forderung für berechtigt und forderten einstimmig die Regierung auf, mit dem Umzug zu warten. Rühe zeigt sich dadurch nicht beeindruckt.

Für Dr. Detlef Bald, wissenschaftlicher Direktor im SOWI, ist die Lage eindeutig. Die konservative Regierungsmannschaft wolle die kritischen Wissenschaftler loswerden, die Bildungsreform in der Bundeswehr von 1970/71 rückgängig machen. Damals sollte die Bundeswehr progressiv verändert werden. Die damaligen Reformpläne lassen sich grob so skizzieren: Akademisierung des Offizierskorps; Emanzipation des Offiziers zu einer frei entfalteten, entwickelten, kritischen Persönlichkeit; Integration der Streitkräfte in die Gesellschaft sowie Erhöhung der Attraktivität des Offiziersberufs und somit eine qualitativ höhere Rekrutierung des Offizierskorps.

Es hat immer wieder Einschränkungen für die Forscher gegeben, die beispielsweise in Somalia die Einsatzrealitäten der Bundeswehr untersuchen wollten, aber nicht durften; die Bundeswehr nahm nur Jubelpresse auf ihre umstrittene Reise mit. Detlef Bald gehört zu den Forschern, die nicht nach Strausberg mitziehen werden, das weiß er jetzt schon. Von den 25 Wissenschaftlern werden weniger als die Hälfte nach Strausberg gehen. Professor Fleckenstein verliert alle Mitarbeiter im Unterstützungsbereich, also in Verwaltung, Bibliothek, Textverarbeitung. Sofern sie nicht eingespart werden, sollen die neuen Arbeitskräfte aus Strausberg kommen. Daß die meisten Wissenschaftler nicht mitgehen, ist der schmerzlichste Verlust für die deutsche Militärsoziologie, denn sie wird an deutschen Universitäten nicht gelehrt. So geht erhebliches Expertenwissen verloren, beklagt der Direktor. Neue Leute, so verlautete aus Bonn, können nicht eingestellt werden, die Bundeswehr muß sparen. Und sie spart gerne da, wo sie gleichzeitig Kritiker loswerden kann. Und das in einer spannenden Zeit. Untersuchungen über den Fortgang der deutschen Einheit und die sozialen Veränderungen in der Bundeswehr im Zuge der Umstrukturierungen und des Aufbaus von Krisenreaktionskräften für internationale Einsätze sind jetzt dringend nötig. Die Sozialwissenschaftler wüßten gern genauer, ob sich durch die neue Militärpolitik der eher forsche und stramme Soldatentypus in der Bundeswehr rekrutiert.

Aus dem Bundeskanzleramt war aber zu hören, daß Helmut Kohl ein persönliches Interesse am Aus des SOWI hat, er will damit die unter der sozialliberalen Koalition von Helmut Schmidt und Willy Brandt geförderten Sozialwissenschaften, die sich an Begriffen wie Demokratisierung, Aufklärung, Partizipation und Emanzipation orientierten, auf günstigem Wege loswerden. „Ein ungeliebtes, weil unbequemes Kind soll in ein Spezialinternat kommen“, meint der Verteidigungsexperte der SPD, Heinz-Alfred Steiner. Auch SOWI-Personalrat Oberstleutnant Dr. Georg-Maria Meyer vermutet, daß die Verlegung eine willkommene Gelegenheit ist, Kritiker mundtot zu machen, vorgeblich als Opfer für die deutsche Einheit.

Das SOWI war für keine Regierung bequem, weil es qua Auftrag immer in Gebieten herumstochert, in denen etwas nicht in Ordnung ist. In vielen Fällen sind die Ergebnisse der SOWI-Forschungen nicht sehr schmeichelhaft für die Bundeswehrführung.

Nachdem die eingelegten Widersprüche gegen den Umzug abgelehnt worden sind, haben 15 Mitarbeiter nun vor dem Münchner Verwaltungsgericht Klage wegen der fehlenden Sozialverträglichkeit des Umzugs erhoben. Personalrat Meyer ist optimistisch. Ende Juni war der zuständige Referatsleiter Oberst Schwarz von der Bonner Hardthöhe in München und mußte zugeben, daß die Machbarkeit von Rühes Vorhaben bisher gar nicht geprüft wurde. Das kann vor dem Münchner Verwaltungsgericht ein ausschlaggebendes Argument gegen eine sofortige Verlegung sein. Bis 1998 können die Münchner nur hoffen, daß der Bundeswehr das Geld ausgeht für das 50 Millionen Mark schwere Wissenschaftler- Ghetto.

Der Autor arbeitet im Rahmen des Stipendienprogramms „Der Westen auf dem Prüfstand“ der Körber-Stiftung Hamburg-Dresden.