piwik no script img

Störtebecker, wat liggt an?

■ „Sozialismus voraus!“ / Ein Buch über Seeräuber in Nord- und Ostsee / Abenteurer? Rächer der Armen? Sogar Frühsozialisten?

Vor haargenau 1.000 Jahren, im Sommer 994, passierte im Moor bei Glinstedt, etwa 40 Kilometer nördlich von Bremen, Ungeheuerliches. Eine Wikingerflotte war in die Weser eingelaufen, die Seeräuber waren im Land Hadeln an Land gegangen und hatten die Gegend bis nach Lesum ausgeplündert. Zusammen mit den Gefangenen war das Seeräuberheer schließlich 20.000 Mann stark, als es, geführt vom sächsischen Ritter Herward, das Glinstedter Moor durchquerte. Jener Herward aber war listenreich und führte die Piratenarmee an die gefährlichste, nämlich sumpfigste Stelle, wo sie leichte Beute der Einheimischen wurde. Alle 20.000 wurden bis auf den letzten Mann erschlagen.

Adam von Bremen verdanken wir die Kenntnis von diesem Wikingerzug; er war Leiter der Domschule zu Bremen und ist für seine große Hamburgische Kirchengeschichte bekannt. Vielleicht sind in den hundert Jahren zwischen dem Ereignis und der Niederschrift die ein oder andere Null bei der Zahl der Feinde hinzugekommen; aber eigentlich gilt Adam als sorgfältiger Chronist, der an die Originalschauplätze reiste, Zeitzeugen befragte und alle zugänglichen Quellen auswertete. Davon jedenfalls sind Heiner Boehncke und Hans Sarkowicz überzeugt, die bei Eichborn ein Seeräuberbuch herausgegeben haben: „Mit Totenkopf und Enterhaken.“ Das Buch handelt von den „Abenteuern der Seeräuber in Nord- und Ostsee“ (Untertitel) – aus bekannten und unbekannten Quellen werden die Geschichten von Wikingern, von Starpiraten wie Klaus Störtebecker und von ins Muselmanenland verschleppten Seeleuten erzählt. Unaufdringlich und beinahe nebenbei wird das Quellenmaterial hinsichtlich seiner historischen Genauigkeit eingeschätzt. Das besondere Interesse der Räuberforscher (3 Bücher über bayerische, sächsische und rheinische Räuber, demnächst eins über Räuberinnen) gilt den projektiven Volksphantasien, die Seeräuber immer auf sich zogen, ja ziehen.

Ohnehin gab es jahrhundertelang keinen Konsens zwischen der Anrainern der beiden Meere, was die Beurteilung des Piratenhandwerks anging. Waren es zur Wikingerzeit nicht nur wilde Plünderer, sondern auch Menschen auf der Suche nach neuem Lebensraum, weil's daheim zu eng geworden war, spielten Recken wie Störtebecker und Godeke Michels zur Blütezeit der Hanse auch eine kriegswichtige Rolle im Gerangel der Fürsten und Könige von Mecklenburg, Dänemark und Schweden. In Wismar holten sich die Piraten damals offizielle Kaperbriefe gegen Dänemark und Norwegen ab. Zahlreiche Städte trieben schwunghaften Handel mit der Piratenflagge oder waren den Räubern über Schutzgeldzahlungen verbunden.

Im Volk aber hieß es, die Seeräuber nähmen den Reichen und gäben den Armen. An Bord, unter den Störtebecker-Buben, die „Likedeeler“ (“Gleichteiler“) genannt wurden, herrschten dem Vernehmen nach geradezu frühsozialistische Zustände. Das fanden nicht nur die Habenichtse aller Zeiten, sondern auch die Dichter. Wie die Vorzeigedichter der DDR, Willi Bredel und Kurth Barthel (“Kuba“); letzterer schrieb sogar ein Weihespiel namens „Störtebecker“, das 1959 auf Rügen uraufgeführt wurde. Kostprobe: „Störtebecker – Göstemichel – / Wigbold, wat liggt an? / Likedeeler – Likedeeler: / Frieden, das liegt an! / Der Frieden liegt an – / Sozialismus voraus –/ Die Arbeiter / Herren im eigenen Haus.“

Eigentlich ist „Mit Totenkopf und Enterhaken“ ein vergnügliches Lesebuch voller unerhörter Episoden und nie gehörter Geschichten; ja man vergißt über die „Wahrhaftige Historia der Überwältigung des Seeräubers Klaus Kniphoff“ und die Abenteuer des Amrumers Hark Olufs (geboren 1708) in türkischer Sklaverei völlig die klugen Relativierungen und historiographischen Nachbesserungen der Herausgeber. Letztlich lesen wir ein Abenteuerbuch. Bus

Heiner Boehncke, Hans Sarkowicz (Hg.), Mit Totenkopf und Enterhaken. Die Abenteuer der Seeräuber in Nord- und Ostsee. Eichborn 1994, 217 Seiten, einige schlechte Abb., DM 29,80.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen