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Bene Tibi: Christian Marzahns Erzählungen aus dem Bremer Ratskeller (4)

Der vierte Teil jener seltsamen Geschichten, die sich nicht erst seit Wilhelm Hauffs Zeiten um den Geist des Bremer Ratskellers ranken. Christian Marzahn hat sie aufgeschrieben, als persönliche Vision, die er als „eine Miniature aus meinem Tagebuch und anderen bremischen Dokumenten“ festhielt. Der von ihm hinterlassene Text wird unter dem Titel „Bene Tibi“ in der Edition Temmen erscheinen; wir drucken ihn seit 25. Juli in Folge.

Eine Gestalt löste sich aus der Dunkelheit und trat in den Schein meiner Kerzen. Nein, ein Strolch war das wenigstens nicht. Trotzdem blieb alles sehr beklemmend. Ich faßte mir ein Herz und sah genauer hin: mittelgroß, königsblauer Frack, dunkelbraunes Haar, eine scharfe, etwas gebogene Nase, volle Lippen, ein starkes Kinn und unter dunklen Augenbrauen azurblaue Augensterne. Wenn auch überaus seltsam und kaum begreiflich, gab es doch keinen Zweifel: Es war der schwäbische Poet höchst persönlich. Und wie zur Bestätigung stellte er sich nun auch namentlich vor. Ich sprang auf, stammelte auch meinen Namen und lud ihn ein, Platz zu nehmen. Mit einem „Darf ich?“ kredenzte ich ihm einen Schoppen Johannesberger Riesling.

„Zum Wohl sein!“ - „Prosit!“

„Ja, das ist ein Weinle! Fast wie damals.“ Und er schlürfte den Johannisberger versonnen und mit Wohlbehagen.

„Schön“, nahm er den Faden wieder auf, „wie Sie das vorgelesen haben, ich hör's immer wieder gern. Das hat ein Weinfreund geschrieben, findet Sie net? Nach einer kleinen Pause fügte er hinzu: Sie sen au a Schwab, gell? Hab i glei ghört. Woher sen Se denn? So, au aus Stuttgart. Und da trifft man sich im Bremer Ratskeller! Darf ich Sie fragen, was Sie vom Neckar an den Weserfluß geführt hat?“ Ich berichte ihm von der Neugründung der hiesigen Universität, ihrer eigensinnigen Entwicklung, und daß es mich bis heute nicht gereut habe, hierher gekommen zu sein.

„Ja, ja, so isch no au wieder. Übrigens, ich kenn Sie.“

„Wie bitte?“

„Ich kenn Sie. Wir haben uns schon einmal getroffen. Auf dem Hoppenlau Friedhof. Erinnern Sie sich net?“

Sofort stand mir die ganze Szene wieder vor Augen. Bei einem anderweitig begründeten Aufenthalt in Stuttgart hatte ich auch Hauffs Grab besuchen wollen. Also begab ich mich auf den besagten Friedhof, fragte dortselbst viele eilige Passanten nach dem Grabe des Dichters ohne Erfolg. Viele wußten gar nicht, wen ich überhaupt suchte. Unter einem Schuppendach hatte sich eine Gruppe von Wohnungslosen ein Lager eingerichtet. Bei denen versuchte ich nun mein Glück, und siehe da: Sie wußten, von wem und wovon die Rede war.

„Ha, do miaßet Se do henten nom gange. Des sähn Se glei; 's isch a Leier uf ama große Stoi“ -So fand ich das Grab Wilhelm Hauffs und legte, in Ermangelung größerer Gebinde, ein Veigele darauf nieder - und die Grüße seiner Verehrer in Bremen.

„Ich hab alles gehört und gesehen damals. Und ich danke Ihnen recht schön.“

Ich hatte niemanden kommen hören, und dennoch waren wir plötzlich drei im Raum. Wieder erschrak ich heftig. Hauff dagegen begrüßte den älteren Herren, der jetzt bedächtig die letzten Treppenstufen herunterstieg, wie einen alten Bekannten:

„Das ist mir aber eine Freude, daß wir uns hier im alten Weinkeller wiedersehen. Die Stadt, die Begegnungen, die alten und die neuen Freunde, die ich hier gefunden, sie sind mir unvergessen. Und erst recht jener bezaubernde Abend hier im Keller mit den alten Weinen, den poetische Geschichten - ich bin Ihnen noch heute dankbar für diese Gastfreundschaft.“

„Ja, schön ist es gewesen. Und Sie haben auch etwas Schönes daraus gemacht, wofür die Bremer sich bei Ihnen bedanken können.“

Jetzt endlich hatte ich ihn erkannt. Die kleinen stechenden Augen, die eher breite Nase, das energisch vorgeschobene Kinn, halb in dem hohen Kragen und dem Jabot vergraben, das gefurchte Gesicht und das gutmütige Lächeln es war der große Bürgermeister Smidt.

Wunder, daß die beiden Herren nun ihre alte Freundschaft mit einem tüchtigen Schluck Johannesberger auf's neue besiegelten.

„Ah, und dann Ihre charmante Aventiure mit der kleinen S-tolbergerin.“

„Seien Sie zartfühlend, Magnifizenz. Erinnern Sie mich nicht daran.“

„Ja, ja Bin einmal ein Narr gewesen ..., nicht wahr?“

„Allerdings.“

„Hübsch war sie ja, die blonde Josephe, und nicht nur Ihnen hat sie den Kopf verdreht. Dabei ans-tändig, grundans-tändig. Jedenfalls haben wir hier in Bremen noch lange geschmunzelt, als Sie längst wieder abgereist und bei Ihrem Luisgen in S-tuttgart waren.“

„... daß ich solch ein Narr konnt sein.“

Sie kamen auf gemeinsame Freunde zu sprechen und nochmals auf die alten kostbaren Rheinweine, die der Maire der Stadt, Professor Wichelhausen, und Senator Gröning in der Franzosenzeit so listig vor der Versteigerung gerettet hatten.

„Gibt es den Apostel- und den Rose-Keller auch heute noch?“ fragte Hauff angelegentlich. Der Bürgermeister bejahte, und ich flocht geschwind die Bemerkung ein: Natürlich gedenken die Leute dort besonders gern Ihrer Erzählung, oder man kann sie ihnen dort recht gut bekannt machen. Aber sagen Sie doch bitte, Herr Dr. Hauff: Durften Sie damals auch den 1615er Rüdesheimer kosten? Hauff wollte gerade antworten, da sagte der Bürgermeister:

Psst, das bleibt ein Geheimnis, nicht wahr?

Gewiß, ein Geheimnis! Libera quae sub ea dicta tacenda scias! Heißt es nicht so? Das war nun aber weder Hauff noch Smidt, sondern eine neue Stimme, die sich von der Treppe aus vernehmen ließ. Als habe er das gar nicht bemerkt, antwortete der Bürgermeister gedankenverloren: So s-teit dat schreven, so wor dat und so schall's blieven. Dann schaute er sich um, wer da auf dem Treppenabsatz stünde. Ein junger Mann kam die restlichen Stufen herunter, dunkelhaarig, schnauzbärtig und sagte halb wohlwollend, halb schnippisch:

Da hatte ich vorgestern Abend große Knüllität von zwei Flaschen Bier und zweieinhalb Flaschen Rüdesheimer 1794er. Man sitzt so recht schön zwischen den Fässern. Ja, der Weinkeller. Das ist unleugbar das beste Institut in diesem langweiligen Nest, wo man nichts tun kann als fechten, essen, trinken, schlafen und ochsen. voilà tout ....

Nu man nich so hitzig, dschjunger Mann; erwiderte gemütlich der Bürgermeister. Wie war der werte Name?

Ich bitte vielmals um Vergebung: Engels, Friedrich Engels, wohnhaft seit kurzem in dieser schönen Stadt und beschäftigt als Lehrling im Comptoir der respektablen Handels-Firma Heinrich Leupold.

„Ja, ja. Aus Barmen, nicht wahr? Und an literarischen und theologischen Fragen mehr interessiert als an der Ökonomie. Treviranus hat mir von Ihnen erzählt.

Gewiß von einem Poeten, durch dessen Reimereien noch nicht viel für die Kunst getan ist. Ich bitte auch um Nachsicht wegen der unbedachten Äußerung vorhin über Bremen.

Dat lot Se man got wesen, Herr Engels, sagte der Bürgermeister versöhnlich. Aber vielleicht gäbe es für ihn in Bremen doch noch einiges zu entdecken. Ob er denn das neue Theater kenne, oder die neueren Armenanstalten, für die man gelobt werde, oder die neuen Hafenanlagen in Bremerhaven oder die altbewährte bremische Verfassung?

Ihre Verfassung?, ereiferte sich Engels von neuem. Magnifizenz, bei allem Respekt, aber in Bremen ist die Opposition gegen die Regierung nicht rechter Art, weil sie in der Geldaristokratie, den Älterleuten besteht, die sich der Rangaristokratie, dem Senat widersetzen. Nein, bewährt habe sich diese Verfassung nicht. Jeden Aufschwung des Geistes behindere sie; niederträchtig sei sie geradezu so scharf drückte er sich aus, sehr zum Mißvergnügen des Bürgermeisters, der heftig an seiner kurzen Tonpfeife sog.

Ins Theater, fuhr Engels unbeirrt fort, geh' ich sehr selten, da das hiesige schändlich schlecht ist. Und die Literatur? Bremen sieht die Literatur mit argwöhnischen Blicken an, weil es kein ganz reines Gewissen gegen sie hat, und gewöhnlich nicht aufs sanfteste von ihr berührt wird.

Hiermit war nun der Dichter aus dem Schwabenlande gar nicht einverstanden. Ich muß gestehen, lieber Herr Engels, daß ich die Bremer bei meinem freilich zu kurzen Aufenthalt hierselbst sehr offen und keineswegs so philisterhaft angetroffen habe, wie Sie sie zeichnen. Dabei wechselte er einen Blick mit dem Bürgermeister. Engels aber eiferte weiter: Keine Philister? Ein schwarzer Schnurrbart genüge, all die Philister zu perhorreszieren. Vor einem Vierteljahr kannte mich kein Mensch hier, und jetzt kennt mich alle Welt, bloß wegen dem Schnurrbart. O über die Philister!

Und als wolle er seine Kritik auf die Spitze treiben, fügte er hinzu: Leider geht hier die Opposition nur zu oft mehr aus einem Neide gegen die Patrizier hervor, als aus dem Bewußtsein, daß die Aristokratie dem vernünftigen Staate widerstrebe; und dabei ist sie so beschränkt, daß ebenso schwer mit ihr über bremische Angelegenheiten zu sprechen ist, wie mit den strengen Anhängern des Senats. Beide Parteien überzeugen einen immer mehr, daß so kleine Staaten, wie Bremen, sich überlebt haben, und selbst in einem mächtigen Staatenverbunde ein nach außen hin gedrücktes und nach innen hin phlegmatisch-altersschwaches Leben führen müssen.

Das war dem Bürgermeister nun doch zuviel. Halb verärgert, halb amüsiert sagte er: Mein lieber, junger Freund, mir scheint, Sie sind ein Mann des schnellen Urteils. Und nun folgte eine strenge Lektion über die Jahrhunderte alte, gegen viele Widerstände immer erneut verteidigte Unabhängigkeit Bremens, die besonderen und übergeordneten Pflichten einer See- und Fernhandelsstadt und die Treue der Stadt zu ihrer republikanischen Tradition. Hieraus seien ihr besonderer Bürgersinn, ihr Selbstverständnis als eine Verantwortungsgemeinschaft, sei ihre besondere Staatskultur erwachsen. Gingen diese einmal verloren, habe die Selbständigkeit Bremens keine Grundlage mehr. Der Bürgermeister lächelte jetzt nicht mehr, sondern sprach sehr ernst. Entsprechend vorsichtig gab Engels zu bedenken, ob jetzt, da der vierte Stand seine Stimme erhebe, die alte bremische Verfassung noch lange Bestand haben könne. Wir werden sehen, sagte der Bürgermeister, nun wieder etwas milder, und unsere Hände nicht in den Schoß legen.

So disputierte und politisierte man noch eine Weile weiter über die Zukunftsbedeutung Bremerhavens, den neuen Aufschwung des Amerikahandels, den notwendigen Schutz der Auswanderer. Weltoffen müsse diese Stadt bleiben, wie es ihrem Wesen entspreche. Weltoffen? Wie war das doch mit Smidt und den Juden? Aber ich sagte nichts. Erst als man auf Kunst und Wissenschaft zu sprechen kam, fragte ich:

Magnifizenz, in jungen Jahren waren Sie selbst Philosophieprofessor am hiesigen Gymnasium Illustre, nicht wahr? Und, wie es scheint, lag es Ihnen am Herzen. Warum ist es auch Ihnen nicht gelungen, diese altehrwürdige Einrichtung im Geiste der Zeit zu erneuern etwa als eine bremisch-französische Universität, oder durch die Berufung moderner, freiheitlich gesonnerer Gelehrter nach Bremen; die Göttinger Sieben waren damals von ihren Lehrstühlen vertrieben worden, unter ihnen Ihre alten Freunde Jacob und Wilhelm Grimm.

Das s-timmt, erwiderte der Bürgermeister, eine Erneuerung unserer Hochschule ist damals nicht gelungen. Schwer zu sagen, warum. Aber vielleicht war die Neuordnung des gesamten höheren Schulwesens für Bremen damals wichtiger; denken Sie nur an die Einrichtung der bekenntnisfreien Hauptschule, der Staatsvolksschulen, einer geordneten Lehrerausbildung und schließlich der Schulpflicht überhaupt. Das waren weitreichende Anstöße zum Wohle Bremens.

Zum Wohle Bremens, wiederholte der Bürgermeister und hob sein Glas, und zum Wohl seiner lieben Gäste! Zum Wohle Bremens!, wiederholten wir freudig und ließen unsere Gläser klingen.

Auf dieses Zeichen hin kam ein neuer Gast die Treppe herunter und gesellte sich an unseren Tisch. Ich hörte Gläser-Klang zu später Stunde. Da hielt es mich nicht länger drüben im Dom. Aber welch hochmögende Gesellschaft! Ich grüße die Herren ergebenst und fühlte mich sehr beehrt, mit Ihnen anstoßen zu dürfen.

Aber mit dem größten Vergnügen, sagte der Bürgermeister mit einer einladenden Geste, nehmen Sie doch bitte Platz, Herr von Knigge. Ja, das war er: die aristokratische scharfgebogene Nase, das hervorspringende Kinn, eine markante Physiognomie. Ich staunte nicht wenig.

Ich darf Ihnen gestehen, daß ich Sie von der Treppe aus schon ein wenig belauscht habe, und allzu gerne würde ich zu einigen Sujets Ihrer Unterhaltung auch meine Meinung äußern. Heiter schaute er in die Runde, und, ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort: Er sei mit Herrn Engels ganz einverstanden in der günstigen Beurteilung des hiesigen Ratskellers. Ein unterirdischer Bacchus-Tempel mit den kostbarsten Wein-Schätzen, die sich denken ließen. Weniger angetan sei er hingegen von dem Gericht frischgebratener Neunaugen (welche mir im Vorübergehen zu sagen, eine ungesunde und nicht einmal so wohlschmeckende Kost zu sein scheint, wie die eingemachten).

Dem Lob des Ratskellers werde wohl jeder zustimmen, der kein Narr und kein Banause sei. Wir nickten, stießen mit unseren Gläsern an und ließen den Ratskeller hochleben. Aber, setzte er hinzu, auch dem Urteil des Bürgermeisters springe er gerne bei, wenn dieser zu Recht andere Einrichtungen dieser Stadt würdige: Die Policey ist vorzüglich gut; kein Bettler ist in und um Bremen zu sehen, besonders seit der neuerlichen Verbesserung der Armen-Anstalten. Und zwar werden diese Bettler nicht, wie wohl in anderen Städten, mit leerem Magen, über die Grenze dem lieben Nachbarn zugeführt, sondern es wird dafür gesorgt, daß sie hier arbeiten und essen können.

Er sei froh, antwortete der Bürgermeister, daß Herr von Knigge gerade diesen wichtigen Bereich erwähne. Tatsächlich seien die Verhältnisse hier nicht sehr gedeihlich gewesen. Schon der ältere Bericht über die Bremer Gefängnisse und Arrestbehälter habe sich hinsichtlich Hygiene und Sicherheit sehr kritisch geäußert. Und erst recht die Franzosen, die unsere Tor- und Turmgefängnisse schlicht als monuments des siècles barbares bezeichneten. Erst neuerdings sei mit dem Detentionshaus endlich ein zeitgemäßes Gefängnis entstanden. Gewiß werde sich Herr Engels bald einige dieser segensreichen Einrichtungen ansehen; auch den Dom und die Domschule, den Wirkungsort des Freiherrn, dürfe er dabei nicht übersehen. Schade übrigens, fügte er hinzu, daß Herr von Knigge die Eingliederung des Dombezirks in unsere Stadt nicht mehr erlebt habe. Das sei nicht nur ein gutes Stück Diplomatie gewesen, sondern auch ein schöner Sieg der alten Hansestädte über die Residenzen, vollendete der Freiherr den Satz. Der Bürgermeister lächelte.

Den Faden der Kontroverse nochmals aufnehmend, fragte er: Und was halten Sie, lieber Herr von Knigge, von unserer bremischen Verfassung? Dieser war um eine klare Antwort nicht verlegen: Zum Lobe der hiesigen städtischen Regierungs-Verfassung glaube ich nichts besseres sagen zu können, als daß seit 1428, da sie also ist gegründet worden, nicht die geringste Gärung unter den Bürgern gewesen, welche dahin abgezielt hätte, eine Veränderung darin zu bewürken. Der Bürgermeister schien nun sehr zufrieden. Was sagen Sie jetzt, Herr Engels? Der war weniger erfreut. Von seiner gemurmelten Antwort verstand ich nur: selbst ein Aristokrat, Blick zurück, und ob das denn alles überhaupt stimme.

Der Freiherr war aber mit dem, was er über Bremen zu sagen hatte, offenbar noch nicht ganz fertig. Ob denn Bremen wirklich eine so ungeschliffene und unaufgeklärte Stadt sei, wie dies oft behauptet werde, fragte er in die Runde, und gab auch gleich die Antwort selbst: Allein durchreisende Freunde haben oft gesagt, daß sie hier in Gesellschaften einen gewissen leichten Ton im Umgange, Lebhaftigkeit und Witz in der Unterhaltung vermissen und sie haben Recht gehabt. Wenn aber wahre Aufklärung darin besteht, daß die Menschen bey Ausbildung ihres Verstandes vorzüglich die Anwendung ihrer Kenntnisse auf ihren Beruf im bürgerlichen Leben vor sich haben; Wenn man einer Stadt nicht den Vorwurf von Barbarey und Verfinsterung machen darf, wo es eine Menge wahrhaft gelehrter und allen Zweigen nützlicher Wissenschaften erfahrener Männer giebt; Wenn derjenige Grad von Cultur der wünschenswertheste ist, welcher nicht auf Unkosten der Sittlichkeit und ächter teutscher Redlichkeit erkauft wird; so gehört Bremen gewiß unter die aufgeklärten Städte.

Diese Worte machten auf uns alle einen starken Eindruck. Wir griffen zum Glas. Nicht zum Spekulieren, zum Wirken ist diese Welt!, rief der Freiherr. Wir tranken bewegt.

Ein schauerlicher Seufzer riß uns aus unserer hohen Stimmung. Es war der jammervolle Seufzer einer Frau; wieder kam er von der Treppe her. Von dort kamen auch die Schritte, Schritte einer Frau. Aber es war nicht die hübsche Josephe, über die wir soeben noch gescherzt hatten. Es schien, es war aber das war doch ganz unglaublich, phantastisch! Ich sah die weiße Haube mit der aufgesetzten Borte, das ausgezehrte Gesicht, den starren Blick. Unwillkürlich schaute ich nach ihrem Kropf und, verstohlener, nach den Leibchen. Waren es vierzehn? Vor uns stand niemand anderes als Gesche Gottfried. Sie seufzte wieder, preßte Bibel und Gesangbuch an ihre Brust, mißtrauisch und gehetzt umherblickend, ob wir diese fromme Geste bemerkten. Das taten wir, denn nun stand sie im vollen Kerzenlicht.

Ich wünsche den edlen Herren einen angenehmen, wunderschönen Guten Abend, sagte sie mit schwacher Stimme und ließ ihre Augen weiterhin unruhig schweifen. Ach, ich wäre Ihnen so von Herzen dankbar, wenn ich mich einen kurzen Moment an Ihren Tisch setzen dürfte nach allem, was damals vorgefallen ist.

Vorgefallen ist!, wiederholte der Bürgermeister grimmig und machte Anstalten, sich zu erheben. Eine besänftigende Geste des Herrn von Knigge schien ihn etwas zu beruhigen, und er nahm seinen Platz wieder ein. Zu diesem gewandt, sagte er fast vertraulich: Habe selbst einmal eine liebe Cousine gehabt, Gesche Margarethe, zehn Jahre älter als ich. Über ein Jahrzehnt haben wir freundliche Jugendbriefe gewechselt; die meinen unterschrieb ich stets mit: gehorsamster Diener. Aber diese hier! Nnee!

Bitte, sagte Gesche Gottfried mit trotzig gespitztem Mündchen, entschuldigen Sie nur meine jämmerliche Kleidung. Und sie zupfte an den Ärmeln und am Kragen ihres Kleides. In ihrer Jugend habe sie recht wacker ausgesehen. Im Detentionshaus freilich ... Lassen Sie doch die Kinkerlitzchen!, sagte der Bürgermeister ungehalten und streng. Alle schwiegen.

Dann hub sie wieder an: Nochmals, Herr Bürgermeister, wage ich diese Bitte an Sie, sich doch meiner anzunehmen und mich nicht zu verlassen, ich werde gewiß beweisen, durch meine Lebensweise und aufrichtige wahre Besserung, daß Ihre Bemühungen nicht umsonst gewesen sind. Der Bürgermeister antwortete nicht.

Ach, könnte ich jetzt mein 25stes Jahr zurückrufen; ich würde gewiß standhafter seyn und stets beten.

Unglückliche!, sagte der Bürgermeister. Sparen Sie sich Ihre Redensarten!

Nun wandte sich Hauff an den Bürgermeister: Magnifizenz, erlauben Sie mir eine schlichte, vielleicht sogar törichte Frage?

Bitte.

Was ist denn damals vorgefallen'?

Nanu, Herr Dr. Hauff, so wenig im Bilde? Nun also: Darf ich Ihnen die scheußlichste Giftmörderin in der Geschichte unserer S-tadt, vielleicht der ganzen neueren Geschichte vorstellen: Gesine Margarethe Gottfried, geborne Timm, wegen Giftmischerei und anderer Verbrechen verurteilt zum Tode mittelst des Schwerdtes, hingerichtet am 21. April 1831 auf dem hiesigen Domshof da drüben, nicht weit von hier. Fünfzehn Menschen, darunter ihre ganze Familie, hat sie mit Arsenik vergiftet; bei mindestens ebenso vielen hat sie es versucht. Das ist damals vorgefallen, lieber Hauff.

Hauff war fassungslos. Endlich fragte er mit belegter Stimme: Und warum habe ich damals nichts von alledem erfahren?

Weil Sie schon nicht mehr in Bremen waren, als die Verbrechen nach und nach ans Licht kamen. Denn auch die Aufklärung der Wahrheit hat sie als Inquisitin im Detentionshaus hintertrieben, wo immer sie konnte. Sie leugnete, gestand, widerrief, beschuldigte andere Person, ges-tand erneut und s-tritt dann wieder alles ab. Unsere angesehensten Gelehrten hat sie mit ihren Intrigen getäuscht wie etwa Herrn Dr. Olbers, der die Vergiftung ihres Sohnes Heinrich irrtümlich als Darmverschlingung diagnostizierte. Zu wirklicher Reue kam sie nie und vielleicht, setzte er mit einem Anflug kaustischen Witzes hinzu, sollten Sie froh sein, daß Sie die Bekanntschaft dieses Frauenzimmers damals nicht gemacht haben. Wer weiß, ob Sie Bremen in guter Gesundheit verlassen hätten. Diese Unholdin hat den guten Namen unserer S-tadt auf das Schimpflichste bekannt gemacht und besudelt bis hinüber nach Amerika. In hundert Jahren werden mehr Menschen wissen, wer diese da gewesen ist, als sich an mich erinnern werden.

Gesche Gottfried weinte jetzt heftig. Sie rang nach Atem. Oh, Herr Bürgermeister, wie gern pflegte ich jetzt alle, die von mir vergiftet sind. Wie gern würde ich den Schlaf entbehren, um nur etwas wieder gut zu machen. Sie preßte den Arm des Bürgermeisters in großer Bewegung: Glauben Sie mir herzlich: Ich liebte geistige Getränke. Oft habe sie in der Vergangenheit einen Krug Wein aus dem Ratskeller geholt. Aber das schwöre sie hoch und heilig: Niemals habe sie etwas an den Wein gegeben. Niemals!

Der Poet aus Schwaben hatte unterdessen seine Sprache wiedergefunden: Können Sie uns sagen, Madame Gottfried, aus welchem Grunde Sie so entsetzliche Verbrechen begangen haben?

Ach, lieber Herr, ich muß mich schämen, es zu sagen; aber ich hatte keinen! Mir war gar nicht schlimm dabei zu Muthe. Ich konnte das Gift ohne die mindesten Gewissensbisse und mit völliger Seelenruhe geben. Ich gab es nicht mit Wahl der Personen, sondern denen Personen, die der Zufall mir zuführte.

Fürchterlich, entfuhr es Hauff.

Zuweilen war ich Monate lang von dem Triebe, etwas zu geben frei; dann kam aber wieder eine Periode, wo ich mit dem Gedanken aufwachte: Wenn die und die Person kommen sollte, solltest du ihr was geben. Ich konnte es so kriegen, wenn ich des Morgens aufstand, daß ich etwas geben mußte. Ich konnte es des Abends so kriegen, daß ich, wenn das Essen auf dem Feuer hing, hinaufging und Mäusebutter holte und es daran gab. Ich gab es aus bloßem Trieb, Mäusebutter zu geben, und aus gar keiner anderen Absicht.

Unerhörte Greuelthaten, wahrhaftig!

Memoiren des Satans, sagte der Bürgermeister zu Hauff, nicht wahr, Herr Doktor?

Gesche Gottfried hatte aufgehört zu weinen. Gelegentlich aufschluchzend starrte sie in's Dunkel. Von welchen Greuelthaten sprechen Sie, mein Herr? Mir geht ein Licht auf, alle leben! Sehen Sie! Sie alle leben noch! Sie haben ein Gegengift bekommen und so sind sie alle wieder besser geworden! Gott hat gesorgt, wie ich die That gethan, daß nun alle wieder gesund sind.

Unwillkürlich folgten unsere Blicke ihren aufgerissenen Augen, konnten aber nichts erkennen. Unverändert lag die Große Halle in nächtlicher Finsternis. Verrucht oder verrückt? ging mir durch den Kopf; wer das wüßte.

Vor mir auf dem Tisch lagen, noch immer aufgeschlagen, Hauffs Phantasien. Ich würde wohl die Vorlesung von vorhin nicht wieder aufnehmen. So schloß ich denn behutsam das schöne Buch und war allein. Einsam saß ich wieder an meinem Kerzentisch, meine Geister, die mir soeben noch Gesellschaft geleistet hatten, waren verschwunden. Die Kerzen flackerten; die Gläser waren alle noch da, und mein Weinvorrat hatte sich nicht vermindert. Ich fühlte mich wie jemand, der ein Abenteuer bestanden hat ein wenig müde, erschöpft, aber auch glücklich, daß es gut ausgegangen war. Aber was für ein Abenteuer hatte ich denn bestanden, ja, was hatte ich heute Nacht überhaupt erlebt? Waren es denn meine Geister? Es waren Gestalten, mit denen ich seit längerem einigen Umgang gehabt hatte, und die mir in dieser Zeit vertraut geworden waren. Nicht, daß sie mir alle besonders sympathisch gewesen wären; aber jede von ihnen war ein apartes Stück Bremen und ein besonderer Spiegel dieser alten Stadt. Kamen sie aus dem Wein? Nun, alle schätzten ihn, aber sie waren nicht aus den Fässern des Rose- und Apostelkellers gekrochen. Sie waren alle die Treppe heruntergekommen die gemalte, erdachte, erdichtete Treppe. Ah, alles war ja ganz einfach! Das Buch, das geöffnete Buch vor mir der ewige Wechselpfad, der aus dem und in das Reich der Geister führt.

Ich hatte das Bedürfnis, mich zu stärken mit etwas Brot und Wein. Und als ich von meinem Muskateller aus Württemberg genugsam gekostet hatte, fühlte ich mich bald erkräftigt, eine dritte Reise durch das dunkle Wein-Reich zu unternehmen. Ich ergriff meinen Silberleuchter und ging nochmals an Slevogts schönen Bildern entlang. Aber sie blieben dunkel. Nur das Bild mit der Treppe, vor dem ich ein wenig verweilte, ließ seine Geheimnisse erahnen. Wer mochte da schon herab- und hinaufgestiegen sein!

Durch die große Halle führte mein Weg an den anderen Keller-Katzen vorbei, die Stufen hinunter in den Bacchus-Keller. Der muntere, hölzerne Gott ritt sein Wein-Roß so vergnügt wie alle Tage. Er ritt es nicht im Schritt und nicht im Galopp, sondern in einer hüpfend-schlingernden oder hopsend-schaukelnden Gangart, die niemand sonst beherrschte. Wenn ich meine Kerzen etwas in die Höhe hob, benahm er sich gerade so, wie ihn sein schwäbischer Verehrer beschrieben hatte: Er verdrehte seine blitzenden Äuglein, baumelte und strampelte mit den kurzen Beinchen, winkte mit dem Kopf, so daß die Locken flogen, und blinzelte mir aufmunternd zu, als sollte ich hinter ihm aufsitzen. Dies schien nun doch etwas gewagt, zumal in meinem momentanen Zustand; so schlug ich das Angebot aus und verzichtete auf einen Ausritt durch den Keller. Aber, präpariert durch das Buch und, wie ich mir nun wohl nicht ganz grundlos schmeicheln durfte, im Umgang mit den Geistern ein wenig erfahrener als andere Sterbliche, konnte mich, was ich da sah, nicht mehr schrecken. Ich zwinkerte also dem fidelen Reitersmann meinerseits freudig zu, machte mich durch nachahmende und wunderliche Gebärden lustig über seinen Reitstil und verabschiedete mich mit einem alten Weinvers:

So ist's am schönsten, vom Trinken nach Hause zu kommen:Nüchtern bin ich nicht mehr, aber auch nicht zu berauscht.

Es war aber noch gar nicht Zeit, nach Hause zu gehen, sondern zurück zu meinem Tisch, um dem letzten Wein dieser Nacht die Ehre zu geben. Dröhnend ratterte oben die erste Straßenbahn vorüber. Es klang, als habe der Fahrer die Schienen verlassen, steuere direkt über das Kopfsteinpflaster und käme im nächsten Augenblick die Eingangstreppe herunter. Im letzten Moment muß er seine Schienen wiedergefunden haben. Ich aber saß nun wieder an meinem Tisch und öffnete den letzten Wein eine Lemberger Spätlese aus Weinsberg an der Weibertreu. Tief-, fast schwarz-rot funkelte der Wein im Glase. Ich schreibe: Sonntag, den 1. September 19 ..., am Tag der Rose. Aber die Buchstaben und Wörter in meinem Tagebuch wollen nicht mehr recht zusammenstehen. Eins, zwei, drei ... die Domuhr schlägt sechs; kein Glockenschlag ist verlorengegangen.

Da in weiter Ferne, noch hinter der Halle, ein neues Geräusch. Neue Geister? Kehren die alten zurück? Aber mein Buch ist geschlossen. Oder sind es die Reinemache-Frauen? Man hatte mir nicht gesagt, daß sie um diese Zeit kämen. Mit einem Schlag ist die Halle erleuchtet, gleichmäßig, mechanisch, grausam. Die Fässer sind wieder da, die Priölken, Tische und Stühle. Die Welt kehrt zu mir zurück.

Jetzt, noch immer weit entfernt, Schritte; auch Stimmen. Eine dunkelhaarige Frau kommt durch die Halle, betritt den dämmrigen Hauff-Keller, in dem noch immer meine Kerzen brennen. Sie sieht mich, grüßt und fragt, ob ich hier arbeite, d.h. saubermache. Es könnte eine Roma oder Sinti sein. Als ich ihre Frage, wahrheitsgemäß, verneine, scheint sie mit der Antwort zufrieden und geht weiter. Nach einigen Minuten ein Mann, ein Schwarz-Afrikaner. Etwas irritiert schaut er herüber zu meinem Kerzen-Tisch und durchquert den Raum, den Blick weiterhin auf mich gerichtet. Ihm folgt alsbald eine andere junge Frau auch eine Ausländerin, wie es scheint. Sie grüßt nicht, schaut nicht herüber, nimmt keine Notiz von mir.

Nun kommt ein kleiner Mann hereingetrippelt, erblickt mich und meine Kerzen und kommt geradewegs an meinen Tisch: Wo kommen Sie denn her?, fragt er mich. Offenbar hat man weder ihn noch die anderen von meiner Sonder-Erlaubnis und meinem einsamen Besuch unterrichtet. Kein Wunder, daß meine Präsenz diese Geister des Morgen-Grauens verwirrt.

Wieso haben Sie denn neun Kerzen auf Ihrem Tisch, und nicht sieben? Ich stutze. Worauf will er hinaus? Aber ohne meine Antwort abzuwarten, mit einem kurzen Blick auf meinen Kalender, fügt er hinzu: Jetzt beginnt ein neues Jahr im hebräischen Kalender. Dann geht er weg. Aber ich habe sie gesehen: die tätowierte Nummer auf seinem linken Arm. Zum zweitenmal in dieser Nacht sitze ich erstarrt. Ich muß ihn fragen, wenn er zurücckommt. Aber darf ich ihn fragen?

Es schlägt halb sieben. Draußen ist es hell geworden; Tageslicht fällt schmutzig durch die Fensterschächte. Wieder kommen Schritte durch die Halle eine Schwarz-Afrikanerin. Auch sie mustert meinen Kerzentisch und mich erstaunt. Ich warte auf den kleinen Mann, aber nicht er kommt zurück, sondern zwei von den Frauen. Sie schieben ein Putzwägelchen, beladen mit den entsprechenden Utensilien. Hinter ihnen dann der kleine Mann. Ich nehme das Gespräch von vorhin wieder auf. Es ist so. Er ist Jude. Die Nummer auf seinem Arm stammt aus Auschwitz. Als Schüler wurde er verhaftet, 1945 befreit. Jetzt ist er siebzig. Von seinen 700 Mark Rente kann er nicht leben. Seit zehn Jahren arbeitet er nun schon im Bremer Ratskeller. Während des Golfkrieges sagte ein Arbeitskollege in seinem Beisein, jetzt werde endlich der Rest vergast. Niemand, berichtet der kleine Mann, habe etwas dazu gesagt. Mit seinen kleinen Schritte geht er hinüber in die Große Halle.

Ich räumte meine Sachen zusammen, löschte die Kerzen und stieg die Stufen zum Haupteingang hinauf. Die Sonne schien; ich mußte blinzeln. Erleichtert und versonnen grüßte ich hinauf zur roten Nase des Weltgeists. Die Straßen und Plätze waren menschenleer. Behutsam suchte ich meinen Heimweg. Da und dort blieb ich einen Moment stehen, bis sich der Bürgersteig beruhigt hatte. Ich redete begütigend mit Ampeln und Verkehrszeichen, wenn sie zu übermütig auf mich zutanzten, und erzählte ihnen von der Lust und Last dieser Nacht.

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