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Das Ende einer Finanzpyramide

Die russische MMM-Aktiengesellschaft steht kurz vor dem Zusammenbruch  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Alle haben geahnt, daß es einmal passieren würde. Und alle haben gehofft, nicht so bald. Jetzt aber ist es soweit: die Aktiengesellschaft MMM ist so gut wie pleite. Von Donnerstag bis Freitag sank der Kurs der MMM-Aktie von 125.000 auf unter 1.000 Rubel, das sind weniger als eine Mark. Dabei war der Preis des beliebten Wertpapieres von 1.600 Rubel im Februar bis auf die sensationelle Höhe von 105.600 Rubel in diesem Monat gestiegen. „Der Schein, taugt jetzt gerade noch fürs gewisse Örtchen“, kommentierte eine Aktionärin, die zusammen mit Zehntausenden von aufgebrachten BürgerInnenn seit Mittwoch abend die mehrspurige Warschauer Chaussee in Moskau blockierte. Die „AO (Aktioerskoje Obschtschestwo = Aktiengesellschaft) MMM“ heißt jetzt im Volksmund nur noch „AU! MMM“. Unter munter-patriotischer Lautsprechermusik bemüht sich die Anti-Terror-Sondertruppe OMON die Leute wenigstens in eine ordentliche Schlange zu zerren – bisweilen an den Haaren. Wer die ersten hundert Plätze in dieser Schlange besetzte, hatte noch Chancen, seine MMM-Aktien einzulösen. Die meisten aber kamen vergebens. Der plötzlich mangelnde Rückkaufwille der Firma, die noch vor einer Woche an 60 Punkten in der Stadt mit ihren Aktien handelte, beschleunigte den Zusammenbruch. Und die von der Direktion genährte Hoffnung, MMM habe wenigstens einen Teil der ihr anvertrauten Gelder in soliden Mammutfirmen wie dem staatlichen Energiekonzern Gasprom, angelegt, muß nun ebenfalls in den Wind geschrieben werden.

„Pyramidale Elemente“ seiner Firma hatte MMM-Generaldirektor Sergej Mawrodi schon vor einigen Tagen zugegeben. Jetzt wurde offenbar, daß es sich um eine reine Finanz-Pyramide handelte. Die Spitze bildeten dabei die ersten MMM-Käufer, die ihre Aktien frühzeitig wieder abstoßen konnten, die Basis die ständige wachsende Käuferschar. Von ihrer unendlichen Verbreiterung hing die Existenz der ganzen Gesellschaft ab. Den gewaltigen Börsenbluff versuchte Firmenhaupt Sergej Mawrodi in einen politischen Bluff von genauso homerischen Ausmaßen zu verwandeln. Er, dessen AG nicht einmal dem Gesetz entsprechend amtlich registriert war, drohte letzte Woche der Regierung mit Bügerkrieg oder Revolution, falls sie nicht für die Verluste seiner KlientInnen aufkäme. Daß diese Worte einem Offenbarungseid gleichkamen, hinderte ihn nicht daran, einen zügigeren Rückkauf der Aktien für die unmittelbar bevorstehnde Zukunft zu versprechen.

Keine Wohnküche, kein Bus und kein Friseurladen in Moskau, wo nicht über das Schicksal von MMM dikutiert wird. Der Grund der gewaltigen Anteilnahme ist in der modernen Wirtschaftsgeschichte einzigartig: MMM hat es geschafft, in Fernseh-Werbespots Gestalten zu zeigen, in denen das Firman-Image mit dem breiter Schichten russischer BürgerInnen zu einer mythischen Einheit verschmilzt.

Seifenoper schaffte Aktiennachfrage

Die mittlere Generation wird dabei von einer Figur namens Ljonja Golubkow und seiner von Serie zu Serie mehr in die breite gehenden Frau Rita und einem Bruder Iwan repräsentiert. Nach dem Vorbild einer Seifenoper werden deren Schicksale – in bisher glücklicher Abhängigkeit von ihrem MMM- Aktienbesitz – von Serie zu Serie fortgesponnen. In der ersten Serie hatte Ljonja seiner Rita nur ein Paar Stiefel und einen Pelzmantel gekauft, im Juni standen sie kurz vor der Verwirklichung des Traumes aller russischen SpießerInnen: ein Haus in Paris und zwei Wolgas. Bei der Fußball-Weltmeisterschaft traf die fernsehende Nation Ljonja und Iwan schon als Schlachtenbummler in den USA an.

Wie Nachfahren des russischen Märchenhelden Iwan der Dumme wirken diese Gestalten, als ob sie geradezu betrogen werden wollten. Der Firma MMM gelang mit ihrer Hilfe, was der Chef der staatlichen Privatisierungsbehörde, Igor Tschubais, vergebens angestrebt hatte: Bei einer Masse von Menschen Vertrauen in die eigenen Aktionen zu erwecken. Und bei denen, die nicht vertrauten, weckten sie einen hütchenspielerhaften Spaß am Risiko.

„Hände weg von Ljonja Golubkow!“ schrieb die Iswestija, nachdem im Juni das staatliche Antimonopolkomitee an die Massenmedien appellierte, die Spots zu ignorieren. Als nächstes trat die staatliche Steuerbehörde auf den Plan. Sie warf der AG, deren Grundkapital lediglich 100.000 Rubel betragen hatte, die Hinterziehung von 55 Billionen Steuerrubeln vor. Wegen dieser öffentlichen Presseverlautbarungen wollte Mawrodi jetzt auch den Bürokraten den Schwarzen Peter für den aktuellen Krach zuschieben. Er drohte sogar mit einem Plebiszit gegen die Regierung. Nach seiner Aussage soll die Zahl der MMM- Aktionäre geschwind von fünf auf zehn Millionen Leute angewachsen sein — mit 50 Millionen Familienangehörigen, wie er betont. Andere unabhängige Experten kommen zu dem Schluß, daß die MMM weniger als zwei Millionen AktionärInnen haben dürfte. Wie dem auch sei, der größte Teil der RussInnen hat das MMM-Spiel nicht mitgespielt und ist jetzt wohl kaum bereit, für die Verluste der SpielerInnen aufzukommen.

Wenig wahrscheinlich ist auch die von einer Moskauer Tageszeitung an die Wand gemalte Perspektive: „Und jetzt verkauft Ljonja Golubkow die Stiefel seiner Rita und besorgt sich dafür einen schönen soliden Strick!“ Den Strick wird sich wohl eher Herr Mawrodi besorgen müssen, falls er sich nicht absetzen kann.

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