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„Halten Sie doch Ihre Füße still!“

■ Der „Altenhof“ in Hamburg-Uhlenhorst: Personal statt Pillen für verwirrte alte Menschen von Gaby Werner

Die fünfzehn alten Damen - die Jüngsten sind 80, viele Mitte 90 - sind emsig bei der Arbeit: Einige rühren mit großer Sorgfalt Eier, andere pellen hauchdünn Kartoffeln oder schneiden Porree klein. Durch die hohen Fenster des geräumigen Pavillons blickt man direkt in den sommerlich grünen Park. „Ist doch schön bei uns“, sagt stolz Frau Körner, die wie viele in der Gruppe im Rollstuhl sitzt. Die ehemals versierten Hausfrauen freuen sich auf den Gemüseauflauf, den sie heute zusammen mit der Diplom-Pädagogin Heidi Krieger kochen werden.

Doch die idyllische Szene im Altenhof in Hamburg-Uhlenhorst ist eine große Ausnahme: Die alten Frauen sind geistig verwirrt (dement) und werden seit drei Jahren im Rahmen des Hamburger Dementenprogramms speziell betreut. Durch zusätzliches Personal erhalten sie mehr Zuwendung und gezielte Anregung in einer überschaubaren Gruppe. Hierzu gehören regelmäßige gemeinsame Mahlzeiten und Aktivitäten wie Gymnastik, Malen, Spaziergänge bis zu Anzieh- und Toilettentraining.

Ingeborg Heger, die Leiterin des kombinierten Wohn- und Pflegeheims der evangelisch-reformierten Kirche, erinnert sich mit Schaudern daran, wie es früher war – und in den meisten Altenheimen immer noch alltäglich ist: „'Schwester, Schwester' rief eine alte Frau pausenlos mit angsterfüllter Stimmme, irrte orientierungslos über die Gänge der Pflegestation.“

Andere saßen tagelang apathisch in ihren Rollstühlen, starrten die weißen Wände an. „Die Menschen vegetierten nur so vor sich hin“, sagt sie traurig. Denn für dreißig schwerstpflegebedürftige Menschen sind im Schnitt nur zwei Schwestern da, die meist nicht mehr als die Satt- und Sauberpflege leisten können.

„Auf los geht's los“, sagt Frau Körner erwartungsvoll zu Heidi Krieger, die die Dementen-Gruppe im Altenhof leitet. Mit einem Erzieher und einer Altenpflegerin teilt sie sich zwei Stellen, nachmittags helfen zwei Zivildienstleistende. Heidi Krieger hilft der alten Frau, die nur schlecht sehen kann, beim Käse-Reiben. Bald stimmen die beiden eines der Lieder an, von denen die alte Dame, die in St.Pauli aufwuchs, einen schier unerschöpflichen Vorrat besitzt: „An der Ecke steht'n Jung mit ,nem Tüddelband“.

„Viele Fähigkeiten können reaktiviert werden“

Die kleine Frau Timm wurde vorher gefüttert. Jetzt sitzt sie im feinen lila-grau gewürfelten Kostüm am Tisch, die Handtasche vor sich auf dem Schoß und zerschneidet Porree. Langsam und bedächtig, blickt ab und zu fragend auf. Sie wird gelobt. Ein zufriedenes Lächeln huscht über ihr Gesicht. Später, beim Essen ist sie eine der wenigen, die nicht kleckert.

Der Altenhof ist eins von insgesamt zwölf Heimen in Hamburg, die von dem seit Juni 1991 bestehenden Programm profitieren, das mit zwei Millionen Mark jährlich von der Sozialbehörde finanziert wird.

Ähnliche Modelle gibt es längst in anderen Bundesländern. Spitzenreiter ist Nordrhein-Westfalen. Auch in Niedersachsen und Hessen steht Schwerstpflegebedürftigen grundsätzlich mehr Personal zur Verfügung.

Ein Bericht des Diakonischen Werkes zum Hamburger Dementenprogramm bestätigt: Durch gezielte Betreuung hat sich die Situation der Verwirrten und das Heimklima deutlich gebessert. Die alten Menschen laufen nicht mehr unruhig über die Flure oder dämmern vor sich hin. Sie wachen langsam auf, Erinnerungen kehren zurück. Sie können einfache Dinge wie Brote streichen und Kaffee eingießen größtenteils wieder selbst verrichten. Und: Sie müssen nicht mehr mit Medikamenten „ruhig gestellt werden“.

Das Programm, dem vor kurzem noch das Aus drohte, wird aufgrund massiver Proteste des Diakonischen Werkes zwar fortgeführt. Doch bisher kommen nur 300 alte Menschen in den Genuß, fast 8000 verwirrte HeimbewohnerInnen warten noch auf eine Verbesserung ihrer Lage.

Altersverwirrtheit entsteht durch ein Nachlassen der Gehirnleistung und kann eine Veränderung der Persönlichkeit zur Folge haben, die Dementen wirken manchmal etwas kindisch. Das Kurzzeitgedächtnis speichert immer weniger Informationen, die Erinnerung an vergangene Erlebnisse und Erfahrungen funktioniert dagegen noch recht gut.

Das Bild der Verwirrtheit ähnelt dem der Alzheimerschen Krankheit. Doch der Morbus Alzheimer, auch präsenile Demenz genannt, tritt schon in jüngeren Jahren auf, während das Auftreten der senilen Demenz an das Lebensalter gebunden ist. Da die Zahl alter Menschen ständig wächst, kann mit einer höheren Zahl von De-menten gerechnet werden. In Hamburg sind zur Zeit 20.500 alte Menschen verwirrt. Über die Hälfte von ihnen wird zu Hause - meist von Frauen - gepflegt.

„Heilung gibt es bisher nicht. Viele Fähigkeiten können jedoch reaktiviert werden“, weiß Ingeborg Heger. „Psychopharmaka, Hektik und Stress auf den Pflegestationen verschlimmern dagegen die Krankheit.“

Inzwischen ist Schwester Christel hinzugekommen. Sie nimmt wie alle Pflegerinnen des Altenhofes drei Monate am Programm im Pavillon teil. Die Vorurteile waren groß: „Die trinken nur Kaffee und wir machen die Drecksarbeit“. Jetzt weiß sie es besser: „Körperlich ist es zwar nicht so anstrengend, aber es zehrt an den Nerven.“ Sie ist von dem Projekt begeistert: „Wir haben die Alten vorher ja vollkommen entmündigt, indem wir ihnen alles abgenommen haben.“

Zum Abschluß des Mittagessens fassen sich alle bei der Hand, sprechen im Chor: „Wir danken für die Mahlzeit. Hat gut geschmeckt.“ Heidi Krieger erklärt die Bedeutung der gemeinsam „zelebrierten“ Mahlzeiten: „Sie strukturieren den Tag, fördern die Gemeinschaft. Vorher saß jede allein in ihrem Zimmer, bekam ein Fertiggericht vorgesetzt, viele wurden gefüttert.“ Hier haben sie gelernt, auf die anderen zu warten, Schüsseln und Teller weiter zu reichen und wieder selbständig mit Messer und Gabel zu essen.

Heidi Krieger und Schwester Christel waschen ab, einige alte Damen helfen Abtrocknen. Das erzeugt Unruhe, die sich sofort auf Frau Quant überträgt. „Ich hab' Angst“, stößt sie hervor. Heidi Krieger legt ihr beruhigend den Arm um die Schulter. „Es geht ihr schon viel besser. Früher, auf der Station, schrie sie den ganzen Tag mit angsterfüllter Stimme nach der Schwester, mußte mit Medikamenten ,ruhig gestellt' werden.“

„Früher wurden sie von anderen weggebissen“

Mittagsruhe auf der Station – zum Kaffee trinken trifft man sich wieder. Diesmal sind auch andere Damen dabei. Am Arm des „Zivis“ Jens tänzelt Frau Busse herein. Klein, drahtig, mit kurzen grauen Haaren. Sie setzt sich neben Frau Körner, die im Rollstuhl sitzt. „Halten Sie mal ihre Füße ruhig!“ beschwert sich diese. „Wieso denn?“ gibt Frau Busse spitz zurück, wippt weiter auf dem Stuhl. Sie solle sich gefälligst beherrschen, ist die Antwort. Jens schlichtet den Streit, indem er die beiden auseinander setzt. Er weiß, daß Rollstuhlfahrerinnen oft empfindlich reagieren.

Frau Busse lacht, plappert unaufhörlich. „Herr Ober, Nachschlag bitte!“ Sie sorgt sich um ihre Nachbarin, die noch nichts zu Essen hat. Das tut gut, weil viele schweigen, ins Leere blicken. Jens geht herum, fragt, wer noch Kaffee möchte, stellt der gelähmten Frau Peysen die Tasse wieder richtig hin. Die alten Damen freuen sich über eine freundliche Geste, ein paar nette Worte. „Auch wenn sie nicht immer alles verstehen, haben sie doch ein besonderes Empfinden für die Atmosphäre“, weiß Heidi Krieger. „Hektik und Schimpfen sind Gift.“

Eine alte Dame, die im Garten ihre Runden drehte, kommt auf ein Täschen Kaffee herein. Heidi Krieger ist stolz, daß sich „Normale“ mit den „Verrückten“ an einen Tisch setzen. „Früher wurden sie von den „Normalen“ richtig weggebissen.“

Frau Jagomast jammert wieder nach ihrer Tochter, die sie jeden Tag besucht. Aber das vergißt sie. Frau Busse will sich totlachen über „die alte Platte“. „So kann's gehen, wenn man Kinder hat“, sagt sie zu der hutzligen Frau Schreiber neben ihr. „Haben Sie welche?“ Die alte Frau mit den feinen Gesichtszügen schüttelt ergeben den Kopf, spricht heute zum ersten Mal. „Im Krieg alle – „ Sie macht eine Geste des Halsabschneidens. „Ooh“, murmelt Frau Busse und nimmt ihre Hand für einen Augenblick.

Frau Jagomast hat ihre Serviette am Mund kleben. „Die hat einen Maulkorb.“ kichert Frau Busse. Sie erntet einen giftigen Blick von Frau Quant: „Hauptsache, Sie sind guter Dinge!“ Das ist typisch für Verwirrte: Sie reagieren oft agressiv, weil sie Dinge mißverstehen oder sich zu Unrecht angegriffen fühlen.

„Wir machen ein Würfelspiel. Drei vorbei!“ schlägt Jens vor. Hierbei können alle mitmachen, gleichzeitig wird Kopfrechnen geübt. Nach einigen Runden ist die gelähmte Frau Peysen müde, versucht, aus dem Würfelbecher zu trinken. Jens redet ihr gut zu, gibt ihr den Becher wieder richtig in die Hand. Beim zweiten Versuch klappt es. „Sie war früher so aktiv“, bedauert er. „Stolz ist sie immer noch. Wenn man ihr auf kindische Weise zu nahe tritt, wird sie ärgerlich.“

Am nächsten Morgen steht ein Gedächtnistraining auf dem Programm. Heidi Krieger empfindet ihr Pädagogikstudium als große Hilfe, ist dennoch ständig auf der Suche nach neuen Anregungen für eine sinnvolle Beschäftigung.

Ein Ratespiel. Wer malte das Bild „Die Nachtwache?“ - „Rembrandt“ kommt es wie aus der Pistole geschossen. Frau Körner hat schon zum zweiten Mal etwas durcheinander gebracht. „Ach, bin ich doof“, sagt sie unglücklich. „Dafür kennen Sie viele Liedertexte.“ tröstet Heidi Krieger. Die alte Dame singt: „Wenn bei Capri die rote Sonne...“ Die anderen stimmen ein. Gelächter, weil man nicht weiter weiß.

Eine Frage für die gelähmte Frau Peysen, die lange Zeit in England gelebt hat. Heidi Krieger hockt sich vor ihren Rollstuhl, legt ihr liebevoll den Arm um und fragt nach dem Wahrzeichen von London. „Tower“, kommt die Antwort von der Frau, die zwei Tage lang fast nichts gesagt hat. „Waren Sie mal da?“ Sie lächelt zufrieden. Heidi Krieger weiß, wie wichtig es ist, den Lebenslauf zu kennen, um einzelne gezielt anzusprechen, verschüttete Kompetenzen wieder zu erwecken.

Beim Mittagessen berichtet sie stolz, daß auch die stille Frau Timm die Fragen leise vor sich hin gemurmelt hat, manchmal auch die richtigen Antworten. Man schwärmt von dem gestrigen Selbstgekochten. Das heutige „Kantinenessen“ kann da wirklich nicht mithalten.

Der Nachmittag vergeht wie im Flug. „Bei schönem Wetter sitzen wir oft draußen und singen“, sagt Heidi Krieger. Viele Heimbewohner möchten auch in der Pavillon-Gruppe mitmachen. Aber nur für fünfzehn ist Platz. „In unserer Gruppe fühlen sich die Menschen mit ihren Schwächen – die sie oft deutlich spüren – angenommen.“

Mit dem Lied: „Oh wie wohl ist mir am Abend“ klingt der Tag aus.

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