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Bergamo liegt gleich bei Potsdam

Ensemblegefühle zwischen Wohnwagen und Blumentöpfen: „Ton und Kirschen“, eine der wenigen Wanderbühnen in Deutschland, tourt mit Goldonis Komödie „Der Diener zweier Herren“ durch Brandenburg und Berlin  ■ Von Henriette Klose

Truffaldinos Mund unter der schwarzen Halbmaske ist bis zur Begeisterung verzückt. Und auch die stolzen Köche im rundlichen Pulcinella-Kostüm können ihre Augen nicht losreißen vom eigenen, großen gelben Puddingmeisterwerk. Truffaldinos Hunger aber wird immer schlimmer. Doch zum Naschen kommt er nicht, da er doch in rasender Eile den Pudding immer wieder von der einen Seite der Bühne zur anderen tragen muß, unentschlossen, welchen seiner beiden Herren er zuerst bedienen soll.

Um diese Aufträge, die ihn als Diener zweier Herren ereilen, entspinnt sich Goldonis berühmte Verwechslungskomödie von 1745. Der Autor versah die Spieler dieses Stücks noch mit den Masken der Commedia dell'arte und ließ viel Platz für Improvisation, Stegreifspiel und Situationskomik. Und das macht genau die ungezwungene Spielweise des Wandertheaters „Ton und Kirschen“ aus Glindow aus, die nun schon den dritten Sommer durch das Land Brandenburg und Berlin touren. Im ersten Jahr stand „Der Bucklige aus 1001 Nacht“ auf dem Programm, und im zweiten zogen sie mit dem „Astronomischen Pferd“ nach Büchners „Woyzeck“ von Ort zu Ort. Seit der Premiere Ende Mai ist die Truppe bereits unterwegs, um bis Mitte Oktober – auf Engagement der jeweiligen Kulturvereine hin und mit Eintrittspreisen um die fünf Mark – bald 25 verschiedene Orte mit Theater zu beleben. Zwischendurch geht es für einige Tage zu ihrem Wohnwagenlager in Glindow, wo zuvor drei Monate geprobt wurde und Margarete Biereye und David Johnston 1992 das Ton und Kirschen Theater (Ton für die Lehmerde und Kirschen für die Obstbäume in Glindow) gründeten.

Die Schauspielertruppe möchte zurück zu den Wurzeln des Theaters und versteht sich ganz in der Tradition des Wandertheaters – im Gegensatz zu etablierten Bühnen und kommerzialisierter Theaterkultur. Gespielt wird ausschließlich unter freiem Himmel und bei Tageslicht, auf einladenden Plätzen, die es überall gibt, auch in den kleinsten Ortschaften. Sie ziehen mit Wohnwagen, Anhängern, eigener Holzbühne, Samtvorhängen, Blumentöpfen, Zuschauerbänken und zum Teil auch mit der Familie im Schlepptau umher.

In Deutschland geht die Wanderbühne zurück auf englische und niederländische Komödianten – Berufsschauspieler, die im 16./17. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum herumreisten. Den Haupt- und Staatsaktionen der deutschen Wanderbühnen mit dem Hanswurst als lustiger Person wurde um 1750 durch „die Neuberin“ und Gottsched ein Ende bereitet. Sie verbannten die derben Hanswurstiaden von der Bühne, um das Niveau des Theaters zu heben und nach französischem Vorbild „regelmäßige“ Dramen in deutscher Hochsprache an festen Spielstätten zu realisieren. Wanderbühnen gab es in Deutschland noch bis Ende des 19. Jahrhunderts.

Die Schauspieler des Ton und Kirschen Wandertheaters begeistern durch sprachliche Gags, Mimiken, obszöne Possen und Aktionstheater. Es geht ihnen jedoch nicht um eine genaue historische Nachbildung der Commedia dell'arte zu Goldonis Zeiten. Was zählt, sind schauspielerische Ausdrucksmittel, Natürlichkeit und Spontaneität: Gestik, Mimik, Körpersprache, Musik (es gibt die verschiedensten Musikinstrumente, so ist auch ein Solo auf einer Säge mit Bogen und Kopfstimme zu hören) und Tanz. Der Gebrauch der typischen Halbmasken der Commedia dell'arte betont nicht nur die Körpersprache, sondern hat zugleich praktische Gründe. Die sieben Schauspieler, die zugleich Techniker, Bühnenbauer (zwei Stunden werden jeweils zum Auf- und Abbau der Bühne benötigt), Maskenbildner und Regisseure sind, schlüpfen so immer wieder in andere burleske Nebenrollen.

Die Frage, ob es die Marotten des Wetters seien, die ein Wanderheater am meisten beunruhigen, wurde mit einem Lachen beantwortet. „Ein mulmiges Gefühl verleiht eher die Ungewißheit“, meint Margarete Biereye. „Jede einzelne Aufführung ist immer wieder ein neues Ereignis für sich.“ Immer wieder ein neuer Spielort, ein neues Publikum, eine neue Atmosphäre. Während sich auf der Terrasse des Neuköllner Körnerparks vor zwei Wochen etwa 450 Zuschauer aller Alterklassen versammelten und richtige Volksfeststimmung herrschte, wurden die Wohnwagen vergangene Woche in Fürstenwalde, auf dem Platz vor dem Modehaus und Hennig's Backstube, zunächst etwas mißtrauisch beäugelt. Zur Aufführung fanden nur etwa 50 Zuschauer, hauptsächlich Kinder, zusammen.

Die Nähe zum Publikum ist von großer Bedeutung für die Theatergruppe. Bei einem Kinderpublikum werden dann bestimmte Witze einfach wiederholt oder erklärt und zu freche Kinder auch mal tatkräftig von der Bühne bugsiert. So erläuterte Truffaldino in Fürstenwalde zum Beispiel, wo Bergamo liegt: „Das ist Richtung Potsdam und weiter.“ Und auch sonst werden die Zuschauer in das Spiel miteinbezogen. Theater soll nicht nur über den Intellekt ansprechen, sondern eine populäre Form der Unterhaltung und Kommunikation sein. Silvio, der sich betrogen glaubende Liebhaber Clarices, heult sich an der Schulter eines kleinen Jungen im Zuschauerraum aus, Truffaldino fächelt galant einer erschöpften Großmutter Luft zu und jagt bei seiner unermüdlichen Suche nach etwas Eßbarem über die Zuschauerreihen hinweg einem vorbeifliegenden Schmetterling nach.

Die Schauspieler aus verschiedenen Ländern (Steve und David Johnston aus England, Pureza Pinto Leite aus Portugal, Matthew Burton aus Australien und Matthias Silze und Margarete Biereye aus Deutschland) verfügen zum Teil über langjährige Theatererfahrungen mit dem englischen Footsbarn Travelling Theatre, das vor allem mit Shakespeare-Stücken zunächst in Europa, dann auch in Australien, Asien und Südamerika auftrat. Die heute 16jährige Julie Biereye krabbelte mit drei Monaten zum ersten Mal über die Footsbarn-Bühne. Die internationale Theatertruppe macht deutlich, daß ein Schauspieler nicht unbedingt an die Sprache seines Heimatlandes gebunden ist – das teilweise etwas fehlerhafte Deutsch ist so charmant, daß es die Konzentration des Publikums eher erhöht als verringert. Und so manch einem Zuschauer erscheinen die Akzente auch einfach beabsichtigt.

Auf den frühen Wanderbühnen verkörperte der immer Hunger habende dumm-schlaue Truffaldino nicht nur die notorische Misere der Dienstboten, sondern auch die der umherziehenden Theaterleute. Darum braucht man sich bei einem Wandertheater in der heutigen Zeit allerdings nicht mehr zu sorgen: Das Ton und Kirschen Theater kann, für die Sommermonate wenigstens, auf die finanzielle Unterstützung vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg, der Stadt Potsdam und dem Landkreis Potsdam zählen. Im Winter jedoch ist die Schauspielergruppe aus Glindow auf das Organisieren von Workshops und auf andere Engagements angewiesen. Aber bis dahin ist es noch weit.

Heute und morgen um 19 Uhr, am Sonntag um 16 Uhr auf der Freundschaftsinsel in Potsdam, 13./14.8. in Perleberg, Hoftheater am Wall.

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