: Bene Tibi: Christian Marzahns Erzählungen aus dem Bremer Ratskeller (12)
Der nunmehr zwölfte Teil jener seltsamen Geschichten, die sich nicht erst seit Wilhelm Hauffs Zeiten um den Geist des Bremer Ratskellers ranken. Christian Marzahn hat sie aufgeschrieben, als persönliche Vision, die er als „eine Miniature aus meinem Tagebuch und anderen bremischen Dokumenten“ festhielt. Der von ihm hinterlassene Text wird unter dem Titel „Bene Tibi“ in der Edition Temmen erscheinen.
Es war aber noch gar nicht Zeit, nach Hause zu gehen, sondern zurück zu meinem Tisch, um dem letzten Wein dieser Nacht die Ehre zu geben. Dröhnend ratterte oben die erste Straßenbahn vorüber. Es klang, als habe der Fahrer die Schienen verlassen, steuere direkt über das Kopfsteinpflaster und käme im nächsten Augenblick die Eingangstreppe herunter. Im letzten Moment muß er seine Schienen wiedergefunden haben. Ich aber saß nun wieder an meinem Tisch und öffnete den letzten Wein, eine Lemberger Spätlese aus Weinsberg an der Weibertreu. Tief-, fast schwarz-rot funkelte der Wein im Glase. Ich schreibe: „Sonntag, den 1. September 19 ...am Tag der Rose.“ Aber die Buchstaben und Wörter in meinem Tagebuch wollen nicht mehr recht zusammenstehen. Eins, zwei, drei ...die Domuhr schlägt sechs; kein Glockenschlag ist verlorengegangen.
Da – in weiter Ferne, noch hinter der Halle, ein neues Geräusch. Neue Geister? Kehren die alten zurück? Aber mein Buch ist geschlossen. Oder sind es die Reinemache-Frauen? Man hatte mir nicht gesagt, daß sie um diese Zeit kämen. Mit einem Schlag ist die Halle erleuchtet, gleichmäßig, mechanisch, grausam. Die Fässer sind wieder da, die Priölken, Tische und Stühle. Die Welt kehrt zu mir zurück.
Jetzt, noch immer weit entfernt, Schritte; auch Stimmen. Eine dunkelhaarige Frau kommt durch die Halle, betritt den dämmrigen Hauff-Keller, in dem noch immer meine Kerzen brennen. Sie sieht mich, grüßt und fragt, ob ich hier „arbeite“, d.h. saubermache. Es könnte eine Roma oder Sinti sein. Als ich ihre Frage, wahrheitsgemäß, verneine, scheint sie mit der Antwort zufrieden und geht weiter. Nach einigen Minuten ein Mann, ein Schwarz-Afrikaner. Etwas irritiert schaut er herüber zu meinem Kerzen-Tisch und durchquert den Raum, den Blick weiterhin auf mich gerichtet. Ihm folgt alsbald eine andere junge Frau auch eine Ausländerin, wie es scheint. Sie grüßt nicht, schaut nicht herüber, nimmt keine Notiz von mir.
Nun kommt ein kleiner Mann hereingetrippelt, erblickt mich und meine Kerzen und kommt geradewegs an meinen Tisch: „Wo kommen Sie denn her?“ fragt er mich. Offenbar hat man weder ihn noch die anderen von meiner Sonder-Erlaubnis und meinem einsamen Besuch unterrichtet. Kein Wunder, daß meine Präsenz diese Geister des Morgen-Grauens verwirrt.
„Wieso haben Sie denn neun Kerzen auf Ihrem Tisch, und nicht sieben?“ Ich stutze. Worauf will er hinaus? Aber ohne meine Antwort abzuwarten, mit einem kurzen Blick auf meinen Kalender, fügt er hinzu: „Jetzt beginnt ein neues Jahr – im hebräischen Kalender.“ Dann geht er weg. Aber ich habe sie gesehen: die tätowierte Nummer auf seinem linken Arm. Zum zweitenmal in dieser Nacht sitze ich erstarrt. Ich muß ihn fragen, wenn er zurücckommt. Aber darf ich ihn fragen?
Es schlägt halb sieben. Draußen ist es hell geworden; Tageslicht fällt schmutzig durch die Fensterschächte. Wieder kommen Schritte durch die Halle – eine Schwarz-Afrikanerin. Auch sie mustert meinen Kerzentisch und mich erstaunt. Ich warte auf den kleinen Mann, aber nicht er kommt zurück, sondern zwei von den Frauen. Sie schieben ein Putzwägelchen, beladen mit den entsprechenden Utensilien. Hinter ihnen dann der kleine Mann. Ich nehme das Gespräch von vorhin wieder auf. Es ist so. Er ist Jude. Die Nummer auf seinem Arm stammt aus Auschwitz. Als Schüler wurde er verhaftet, 1945 befreit. Jetzt ist er siebzig. Von seinen 700 Mark Rente kann er nicht leben. Seit zehn Jahren arbeitet er nun schon im Bremer Ratskeller. – Während des Golfkrieges sagte ein Arbeitskollege in seinem Beisein, jetzt werde endlich der Rest vergast. Niemand, berichtet der kleine Mann, habe etwas dazu gesagt. Mit seinen kleinen Schritten geht er hinüber in die Große Halle.
Ich räumte meine Sachen zusammen, löschte die Kerzen und stieg die Stufen zum Haupteingang hinauf. Die Sonne schien; ich mußte blinzeln. Erleichtert und versonnen grüßte ich hinauf zur roten Nase des Weltgeists. Die Straßen und Plätze waren menschenleer. Behutsam suchte ich meinen Heimweg. Da und dort blieb ich einen Moment stehen, bis sich der Bürgersteig beruhigt hatte. Ich redete begütigend mit Ampeln und Verkehrszeichen, wenn sie zu übermütig auf mich zutanzten, und erzählte ihnen von der Lust und Last dieser Nacht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen