Wir kennen die Folgen

■ Der tschechische Staatspäsident Vaclav Havel über politische Verantwortung, Bosnien und europäische Koexistenz

Igor Blazevic: Sie haben die internationale Staatengemeinschaft wiederholt aufgefordert, in Bezug auf Bosnien eine klarere Haltung zu zeigen. Das war politisch riskant. Warum war Ihnen das so wichtig?

Vaclav Havel:Aus drei Gründen. Zum einen bin ich fest davon überzeugt, daß es in der heutigen Welt voll gegenseitiger Abhängigkeiten möglich ist, das Gefühl einer gemeinsamen Verantwortung zu stärken. Wir sind tatsächlich verantwortlich für die ganze Welt, und nicht erst, wenn es um gewaltsame Konflikte geht, sondern auch schon bei Umweltfragen und vielem anderen. In der Politik ist dieser Sinn für globale Verantwortung nicht sehr ausgeprägt. Das ist der philosophisch-politische Hintergrund.

Ein anderer, konkreterer Grund ist, daß die tschechische Republik bisher nur wenig Talent für konkrete Demokratie gezeigt hat, auch wenn die Werte und Fundamente unserer Republik demokratisch sind. Am deutlichsten hat man das doch in München erlebt. Damals, nach dem Münchener Abkommen (1938), sagte (der britische Premierminister) Chamberlain, er verstünde nicht, warum ein Engländer sein Leben für ein Land riskieren sollte, von dem er gar nichts weiß. Wir kennen die Folgen. Die Hoffnung, im Namen des Friedens die eigenen Werte zu opfern um Menschenleben zu schützen, erwies sich als furchtbare Illusion. Die zögerliche Haltung der internationalen Staatengemeinschaft, sich in Bosnien-Herzegowina und im gesamten Bereich des ehemaligen Jugoslawien einzumischen, könnte besonders für Europa einmal mehr selbstzerstörerische Konsequenzen haben.

Denn der Zusammenschluß Europas gründet auf Koexistenz – von Nationen, Kulturen und Religionen. Wenn demokratische Werte im Namen von Neo-Nationalismus und „ethnischen Säuberungen“ angegriffen und zerstört werden, dann gefährdet das alle Werte, auf denen Europa und sein Zusammenschluß basiert. Das ist nicht nur eine Frage der Solidarität mit denjenigen, die leiden, sondern eine Frage der Solidarität mit uns selbst. Wir dürfen durch unser Zögern nicht die Fundamente unseres eigenen Lebens gefährden.

Und zum Schluß hat es vielleicht einfach mit mir zu tun: mich ärgert jede Indifferenz gegenüber Gewalt und Ungerechtigkeit. Doch wenn ich mich ab und zu dazu äußere, ist mir gleichzeitig nicht ganz wohl dabei. Denn ich muß keinen Mut beweisen, wenn ich das Thema anschneide, und schon gar nicht mein Leben riskieren. Nicht ich treffe ja die Entscheidungen, sondern die internationale Staatengemeinschaft – die Nordatlantische Allianz, die Europäische Union, die Vereinten Nationen. Und es ist immer etwas komisch, wenn jemand, der die Konsequenzen nicht tragen muß, anderen Ratschläge erteilt. Wenn es allerdings um eine umfassende internationale Aktion ginge, bei der verschiedene Staaten um Mitarbeit gebeten würden, könnten wir uns eine Beteiligung tschechischer Einheiten in dieser oder jener Form vorstellen. Trotzdem: jemand, der nicht direkt involviert ist, kann leichter Ratschläge erteilen als jemand, der die Folgen der Entscheidung auch tragen muß. Trotz dieser Bedenken habe ich vielen internationalen Zusammenkünften immer wieder betont, daß Bosnien mehr ist als eine regionale Streiterei. Hier stellt sich vielmehr die Frage nach den elementaren Werten, auf denen nicht nur die europäische Einheit beruht, sondern die Koexistenz der Völker weltweit. Eine der größten Gefahren für eine wachsende Weltbevölkerung ist genau dieser Konflikt zwischen Nationen oder Gemeinschaften, der sich ausschließlich aus einem Gefühl gegenseitiger Differenz nährt.

Sie haben die Genfer Verhandlungen kritisiert. In einer gemeinsamen Erklärung mit dem slowenischen Präsidenten Milan Kucan haben Sie erklärt, die internationale Staatengemeinschaft müsse ihre politischen Ziele für Bosnien neu definieren. Ist das immer noch notwendig und vor allem: möglich?

Die Genfer Verhandlungen fand ich beklemmend. Ich war vor allem erschrocken, als ich den Eindruck gewann, irgendwo erobern wilde Gestalten irgendwelche Gebiete und zeichnen Landkarten, die sie der Genfer Konferenz vorlegen. Die akzeptiert sie dann, zeichnet ihrerseits ein bißchen daran herum und sucht nach Grenzen ethnischer Trennung, die alle drei Kriegsparteien zufrieden stellen könnten. Für mich ist das ein typisches Beispiel dafür, wie man auf die Verteidigung der Werte verzichtet, um die sich doch eigentlich unsere eigene Existenz dreht. Ich hatte den Eindruck, daß Karadzic Genf mehr oder weniger das Material für die Verhandlungen lieferte. Und ich war nicht nur skeptisch, sondern empfand das auch als Heuchelei. Weil sie nicht zugeben wollten, daß die Verhandlungen auf Sand gelaufen waren, haben sie aus der Logik heraus weitergemacht, es sei schließlich wichtig, die Konfliktparteien an den Verhandlungstisch zu bekommen – eine höchst plausiblen Erklärung.

In Wirklichkeit wurde in den Verhandlungen etwas akzeptiert, das den verhandelnden Institutionen selbst zutiefst wesensfremd ist. Man kann nicht mit Gewalt Grenzen verändern und Staaten teilen und dann erwarten, daß sie international anerkannt bleiben. Und man kann auch nicht bereits existierende Grenzen anerkennen und sich gleichzeitig sich in Verhandlungen mit wildgewordenen Armeen darüber stürzen, wie ein Staat in verschiedene Staaten aufgeteilt werden könnte.

Seitdem scheint es, als habe sich die Situation ein bißchen verändert. Die Vorstellung von einer Muslimisch-Kroatischen Föderation, die mit Kroatien konföderativ verbunden ist, scheint vielen ihrer Bürger akzeptabel. Falls es, was ich stark bezweifle, auch noch gelingen sollte, die bosnischen Serben in die Föderation einzubinden, dieses Gebilde anerkannt wird und sich nach föderalen Prinzipien wiederaufbauen kann, könnte das eine Lösung sein. Wir haben ja selbst etwas ähnliches erfahren: wir waren zwei Nationen und beide haben sich voneinander unabhängig gefühlt und das auch in der Staatsform zum Ausdruck gebracht. Wir haben versucht, eine gerechte Föderation zu schaffen, und wie jeder weiß, ist uns das nicht gelungen. So haben wir am Ende beschlossen, uns friedlich zu trennen. Ich bin nicht so naiv, daß ich nicht verstehen könnte, daß Nationen ein starkes Bedürfnis nach ihrem eigenen Staat haben können. Was mir in Bezug auf Bosnien-Herzegowina Sorgen macht, ist, daß die verschiedenen Gemeinschaften sehr eng miteinander verwoben und verbunden sind; das Netzwerk der Koexistenz war vielfältig. Eine Teilungen nach ethnischen Prinzipien wäre endlos: durch jedes Haus, jede Familie, jedes Dorf könnte eine Grenze gezogen werden. Da kann man Vorschläge machen bis zur völligen Absurdität.

Vor ein paar Jahren sah es so aus, als ob wir uns mit dem Ende des Kommunismus und des Kalten Krieges auf ein besseres Europa zubewegen. Heute spricht keiner mehr vom Ende der Geschichte, von der neuen Weltordnung oder europäischer Integration. Stattdessen sprich man über Trennungen, und die neuen Grenzen verlaufen auf europäischem Boden. Westeuropa gleicht immer mehr einer Festung, die allen anderen, die neu aufbauen müssen, total indifferent gegenübersteht. Wenn man also meint, daß die europäischen Demokratien versagen, muß man fragen: warum ist das so? Welche Gefahren liegen noch vor uns? Was kann man tun, damit Europa nicht bald noch schlimmer aussieht als heute schon?

In den ersten Monaten nach dem Fall des eisernen Vorhangs 1990 herrschte begeisterte Stimmung. Wir haben uns vorgestellt, daß Europa sich schneller auf eine neue Ordnung zubewegen könnte als es in der Realität geschah – nur ist der Weg dahin viel schmerzhafter und komplizierter als es am Anfang aussah. Dennoch können wir mit Entscheidungskraft, Kreativität und Mut diese neue Ordnung suchen und bauen. Traditionelle Politik, die sich nur von Pragmatismus und Vorsicht leiten läßt, reicht dafür allerdings nicht. Wir müssen über das Übliche hinausgehen. Es gibt ein paar schöne Beispiele, wie auch traditionelle Politik über sich hinauswachsen kann.

Denken Sie nur an die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg: Da hat eine ganze Generation mutiger Politiker wie de Gaulle, Adenauer, Churchill und andere, die den zweiten Weltkrieg erlebt hatten und dann Stalins Ambitionen in Europa sahen, erfolgreich zumindest Westeuropa neu und besser aufgebaut. Ein Jahrhundert deutsch-französischer Konfrontation wurde damit beendet und der Integrationsprozeß begann. Heute ist von Politikern der gleiche Mut und die gleiche Großzügigkeit gefordert. Wenn wir zu vorsichtig, zu reserviert und zögerlich sind, könnte die neue Ordnung von anderen gebaut werden, von den Nationalisten und Chauvinisten.

Die Bevölkerung von Bosnien- Herzegowina, die ursprünglich Demokratie und einen multi-ethnischen Staat wollte, fühlt sich von Nationalismus und Faschismus besiegt und von den westlichen Demokratien verraten.

Dieses Gefühl kann ich absolut verstehen. Denn es gibt natürlich nicht nur die drei Konfliktparteien, sondern auch eine sehr große, vierte Partei, die keinen Krieg will und die den Konflikt zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen nicht für zwangsläufig hält. Ich bin ganz auf ihrer Seite. Aber wenn wir sagen, jemand hat uns verraten, müssen wir auch unsere eigene Position ehrlich analysieren. Auf die eine oder andere Weise sind die Anführer der Konfliktparteien alle gewählt worden: Karadzic wurde als Repräsentant einer bestimmten Seite in Bosnien-Herzegowina gewählt. Diese Gesellschaft muß sich auch ihre eigenen Irrtümer und ihr eigenes Versagen genau ansehen und kann die Verantwortung nicht einfach anderen zuschieben.

Wenn Sie über Bosnien sprechen, empfinden Sie da einen Konflikt zwischen Havel dem Intellektuellen und Havel dem Politiker?

Ich muß gestehen, daß dieses Problem für Journalisten offenbar größer ist als für mich selbst. Das Schicksal hat mir die Rolle zugewiesen, meine Meinung jetzt so ausdrücken zu müssen, daß sie mit meiner Funktion als Präsident zu vereinbaren ist. Ich muß andere Worte wählen, muß vielleicht diplomatischer und vorsichtiger sein, aber ich muß trotzdem ich bleiben und sagen, was ich denke. Ich nehme das als neue Herausforderung an, als eine Arbeit, die gemacht werden und mit der ich irgendwie fertig werden muß. Das ist nichts neues: mein ganzes Leben lang hat mich das Schicksal vor reichlich merkwürdige Aufgaben gestellt; daß sie so merkwürdig und ungewöhnlich waren, hat mich vielleicht überhaupt erst dazu gebracht, etwas zu tun.

Das Interview mit dem Mitbegründer von Charta 77 und heutigem Präsidenten der Tschechischen Republik, Vaclav Havel, führte der tschechische Journalist Igor Blazevic von der Helsinki Citizen's Assembly.