: Brasilianische Kinder als lebende Ersatzteillager
■ Der Koordinator der brasilianischen Straßenkinderbewegung war in Bremen
Der kleine Carlos fühlt sich schlapp, als er in einer Seitenstraße Belems im Norden Brasiliens wieder zu sich kommt. Er weiß noch, daß er zuletzt vor einem Supermarkt etwas zu essen abstauben wollte. Dann war er von Männern verschleppt und zu einem Arzt gebracht worden. Filmriß. Als sich Carlos aufrichten will, spürt er einen starke Schmerzen in der Seite und bemerkt eine frische Narbe. Was er nicht weiß: ihm ist eine Niere herausoperiert worden. Carlos ist Opfer eines Organraubes geworden. Er ist eines von 15 Millionen Straßenkindern Brasiliens.
Am Freitag hielt Mario Volpi, der 29jährige Koordinator der nationalen Bewegung der Straßenkinder in Brasilien, in der Villa Ichon einen Vortrag. „Zu den Bedrohungen durch Gewalt, Verschleppung oder auch Ermordung ist nun eine neue dazugekommen: Der Organdiebstahl. Dafür ist medizinisches High-tech notwendig. Sollte hier wirklich ein internationales Netz von Organhändlern tätig sein, befürchten wir, daß die Tarnung ebenso perfekt sein wird wie die Qualität der Operationen.“
Vor fast zehn Jahren haben die Straßenkinder selbst diese Bewegung gegründet, um auf ihre Probleme aufmerksam zu machen. Heute gibt es in Brasilien über 200 Basisgruppen. 1985 lud das Kinderhilfswerk UNICEF ErzieherInnen aus allen Spektren ein. Auf diese Initiative hin gründete sich die nationale Organisation. 54 Kräfte arbeiten hauptamtlich, 3.000 SozialarbeiterInnen ehrenamtlich.
Zunächst beobachten die SozialarbeiterInnen die Gewohnheiten der Kinder: „Einige werden nur während des Tages von ihren Eltern zum Betteln oder Beschaffen von Essen auf der Straße geschickt; andere leben dort ständig“, berichtet Mario Volpi. In workshops überlegen Kinder und BetreuerInnen dann gemeinsam, wie den unterschiedlichen Wünsche entsprochen werden kann. Manche wollen in die Schule gehen, andere sich mit gemeinsamem Theaterspiel den Lebensunterhalt verdienen. „Die Kinder sind nicht nur Mitglieder, sondern Mitinitiatoren dieser Gruppen. Das ist ganz wichtig, da nur die Regeln eingehalten werden, die sie selbst aufgestellt haben.“
„Unser Ziel ist es nicht, die vernachlässigten Aufgaben des Staates zu erledigen, sondern ihn an diese zu erinnern.“ Die Vorraussetzungen dafür waren äußerst schlecht. Straßenkinder standen in der öffentlichen Meinung für Kriminalität schlechthin. „Früher wurden diese Kinder als Polizeiproblem angesehen und waren ständiger Gewalt durch willkürliche Festnahmen ausgesetzt.“ Mittlerweile hat es die Bewegung geschafft, einen Bewußtwerdungsprozeß in der Bevölkerung einzuleiten.
Die Straßenkinderbewegung wird weltweit von 16 Organisationen unterstützt – darunter amnesty international, UNICEF und die Kindernothilfe, die in Zusammenarbeit mit Children's Project Mario Volpi–s Deutschlandreise organisiert. Bisherige Erfolge dieser Vortragsreise sind Kontakte zum Kinderschutzbund in Travenmünde, Adveniat und Kinderdorf Rio in Essen sowie Misereor in Aachen. Die bisherige Kooperation mit den Unterstützerorganisationen hat vor Ort bereits Früchte getragen. Nach Berichten über Kindermorde im Jahre 1991 wurde auf internationalen Druck hin einen Untersuchungsausschuß eingesetzt. Imselben Jahr trat das erste Jugendgesetzbuch in Kraft, das neben der Festschreibung der Rechte der Kinder auch die Einsetzung eines Vormunschaftsausschusses in jeder Stadt festlegt.
André Reß/Foto: Reß
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