„So –ne Klimbim“

■ Freitag, 19.8.1994, die Blaue Karawane auf dem Weg von Wittenberg nach Magdeburg, von Bord der MS „Wolfsburg“

Die Blaue Karawane ist selbstverständlich eine demokratische Einrichtung mit dem beschlußfassenden Organ „Plenum“. Die größte parlamentarische Erfahrung hat der Bremer Grüne Uwe Helmke, der somit die Versammlung leitet. Uwe arbeitet auch sonst am ideologischen Überbau. Mit blauer Farbe hat er bei Aktionen in der Stadt seine Gesichtsfalten nachgezeichnet, verteilt Flugblätter und erklärt den Menschen, worum es geht.

Diskussionsbedarf gibt es zu dem Problem ist, daß niemand weiß, wie groß die Karawane ist. Betten waren in der Jugendherberge reserviert, die Organisatoren gehen inzwischen von 81 Teilnehmern aus. Nachts um 2 Uhr zog die Herbergsmutter mit einer Taschenlampe durch die Zimmer und kam auf 92. „Grenzüberschreitung“, mokiert sich einer im Plenum, das Wunder der Karawanenvermehrung.

Und wer kümmert sich um die Dokumentation? Aufruf an alle, Anekdoten schriftlich festzuhalten und an einen Doku-Ausschuß weiterzugeben. Der ist mit StudentInnen der Hochschule für Kunst und Kunsttherapie in Ottersberg angereichert, die ohnehin einen Praktikumsbericht schreiben müssen. Sie bekommen einen Schein für die Teilnahme.

Meist Katerstimmung, alle sind leicht gereizt. Die Musiker wollen nicht Pausenclowns sein, die Schauspieler scheinen in gruppendynamischen Prozessen zu stecken, und Cheforganisator Klaus Pramann will nicht mehr Chef sein und also auch nicht den Bürgermeister Wittenbergs begrüßen. Sonst will auch niemand in die Rolle, also wird der Herr ausgeladen. Vom Schloßhof ruft die Blechmusik zum Abmarsch in die Stadt.

Klaus sagte gerade noch: „Wir haben nur die Version Gutes Wetter geplant“ – da kommt der Regen. Das wie alle Ex-DDR-Städte baugerüstreiche Wittenberg wird ungemütlich. Kamelteile drohen wegzufliegen, Die letzten Zuschauer ohnehin. Doch dann kommt die Sonne wieder und mit ihr der Moment, da die Blaue Karawane zu sich findet.

Nämlich heute ist der „Diesthof“ aus Seyda zu Gast, 1883 als Bodelschwinghsche Arbeiterkolonie angelegt, heute ein kleines Betreuungsprojekt für geistig und psychisch Behinderte, die als Arbeitsmarktsinkompatibel gelten. Und da sind sie plötzlich in ungeahnter Fülle da, die Kontakte mit den Einheimischen, zunächst den Behinderten, die sich mit den Behinderten der Karawane sofort prima verstehen. Grenzüberschreitung? Kein Thema. Eine Kinderzirkus-Gruppe lockt am Nachmittag zahlreiche Schulkinder zu Spagat und Jonglage, und auch hier keine Berührungsängste mit den Fremden. Auf Fässern trommeln kleine mongoloide Männer mit würdevollen Bewegungen Rhythmen, die die Skulpturen von Luther und Melanchton erzittern lassen. Ja es wird ein Fest. Die Blaue Karawane hat ihr traditionelles Thema gefunden, und das liegt im Bereich der Psychiatrie. Ausländer, Arbeitslose, Asylbewerber? Zuviel gewollt! Zuviel gewollt, zu unklar definiert: Wer unter dem Blaumeier-Label segelt, schart leicht alle möglichen Wünsche um sich. Zirkus! Wilde freie arme Theatertruppe! Frei sein als Verrückte unter Verrückten! Elke (26), Studentin der Behindertenpädagogik und der Kunst, hatte sich auf die Nähe zur Blaumeier-Truppe gefreut, weil sie selbst Theater spielt. Nun hilft sie mal hier und dort aus, ist aber eigentlich enttäuscht über die Orientierung nach außen, wo innen noch nichts ist. Wird sie auf dem Marktplatz gefragt, worum es hier geht, quält sie sich mit einer Antwort.

Die Wittenberger können nicht mehr wissen über die Karawane als die Teilnehmer selbst. „So'ne Klimbim haben wir hier noch nicht gesehen“, sagt eine Endfünfzigerin, die in den Akteuren Gaukler sieht. Zwei junge Biertrinker sind zunächst nur der Karawanenmädchen wegen hergekommen und murmeln etwas von einem Kamel, das aus der Wüste kam. Doch je mehr Bier sie trinken, desto wohler fühlen sie sich hier. Eine arbeitslose Frau, der nur Trabbi und Telefon geblieben sind, freut sich über die Gratissuppe, zu der die Karawane geladen hat. 3,50 Mark gespart! „Das sind Geisteskranke und Normale, die wohnen zusammen,“ weiß sie. Reinhold Kristen findet das Kamel schön, würde aber keinesfalls mitreisen. Er ist mongoloid, schneidet tagsüber Gewinde auf Bolzen und will immer auf dem Diesthof bleiben. Alfred ist einer, der dauernd durch die Zähne pfeift; er freut sich riesig, weil er Erich von der Karawane kennengelernt hat, „mein bester Kumpel“.

Die Karawane verschwindet mit einem Spuk: Das theatre du pain seift Luthers Bibel ein und rasiert sie, stopft die Risse in Wittenbergs Straßen mit Nudeln und hält einen Linienbus mit der schieren Kraft des baren Schädels auf der Straße an. „Die Wittenberger,“ sagt die Herbergsmutter , „kapieren sowas immer erst, wenn alles vorbei ist.“

Am Morgen geht's nach Magdeburg. 120 Kilometer, den ganzen Tag auf dem Schiff. Es wird ausgespannt! Burkhard Straßmann