■ Ein Trupp voller Irrer zieht durchs Land:: Unterwegs mit der Blauen Karawane
Bremen (taz) – Zwischen Luther und Melanchthon steht ein blaues Kamel. Das ist zwölf Meter lang, 5,80 Meter hoch und mit Teddyplüsch bespannt. Es kann mit dem Kopf nicken und bei Bedarf schwimmen. So was hat man in der Lutherstadt Wittenberg an der Elbe noch nie zuvor gesehen. „Gaukler sind in der Stadt“, raunen die Wittenberger, „das sind welche, die leben mit Verrückten zusammen“, hat ein gut informierter der lokalen Presse entnommen. „Wessis,“ so viel ist klar, „aber wer bezahlt das?“
Ein Wüstenschiff ist ein Kamel. Das weiß ja jeder. Und ein Narrenschiff ist ein Schiff voller Narren. Aber ein „Wüstennarrenschiff“? Das ist unser blaues Schwimmkamel namens „Wüna“. Seit Mitte letzter Woche ist Wüna schon unterwegs. Von Leipzig aus ging's los nach Torgau; dort tauchte sie in die Elbe, um über den Mittellandkanal nach Bremen zu schwimmen.
An Bord der „Blauen Karawane“ sind SozialarbeiterInnen und alte Grüne, KunststudentInnen, MusikerInnen und viele Theaterleute. Aber auch klinisch „Verrückte“, die viele Jahre ihres Lebens eingesperrt waren, sind mit von der Partie; sowie deren Betreuer und Psychiater. In Bremen gibt es seit Ende der 80er Jahre, nach der Bremer Psychiatriereform und der Auflösung des landeseigenen Irrenhauses, eine sehr agile Psychiatrie-und-Kunst- Szene, die mit zahlreichen Ehemaligen, die in Wohngemeinschaften untergebracht wurden, zusammenarbeitet. Überregional bekannt wurde vor allem die Theatertruppe „Blaumeier“, die sich aus „Normalen“ und „Verrückten“ zusammensetzt. Mit zuweilen über 70 beteiligten Personen produzieren sie atemberaubend schöne und anrührende Theaterstücke.
Am vergangenen Mittwoch fiel die Blaue Karawane in Leipzig ein; und zwar als bunt geschminkter, maskierter und phantastisch verkleideter Haufen mit Blechmusik. Beim Stadion der verflossenen „Lokomotive Leipzig“ wurden die Zelte aufgebaut. Dann zog die Besatzung durch die Stadt und machte „Jux und Dollerei“ in der piekfeinen neuen Mädler-Passage des flüchtigen Herrn Schneider. Mit Handzetteln, auf denen es schlicht „Grenzüberschreitung!“ hieß, versuchte man die Vorübergehenden in den Bann zu ziehen. Was auch gelang: Die künstlerischen Produktionen mit Irren haben, wie die Besucher festellen mußten, etwas Fesselndes. Die Leipziger, die der Einladung zum Werner-Seelenbinder-Platz Folge leisteten und sich Straßentheater und Musikdarbietungen ansahen, waren zwar nach der Show nicht schlauer als vorher, was die Ziele der Blauen Karawane anging, aber nach Hause wollte offensichtlich keiner.
In Torgau wurde das blaue Kamel zum vom TÜV klassifizierten „Sportboot“. Auf dem Wasser ist es unschlagbar: Mit 40 PS aus zwei Außenbordern raste es die Elbe hinunter, daß die Begleitschiffe nicht mitkamen und Storche wie Schafe verdattert dreinblickten. Dann machte die Blaue Karawane am Anleger in Wittenberg fest.
Es ist nicht das erste Mal, daß eine Karawane von Verrückten das Land durchkreuzt. Im Jahr 1985 führte ein blaues Pferd einen Trupp vom Ausgangsort der italienischen Psychiatriereform, Triest, bis nach Bremen hinauf. Unterwegs zog man mit Sang und Klang vor die Tore der bundesdeutschen Irrenhäuser und forderte: Öffnet die Irrenhäuser! In einer Zeit, in der die deutsche Psychiatriereform weitgehend stehengeblieben war, war das ein dezidiert politisches Anliegen.
Das Ziel der Leute im Gefolge des blauen Kamels ist jedoch weit weniger präzise. Es gehe, so die Bremer Veranstalter, um das „Blaue Haus“ und die „Initiative e.V.“ Man sei „gegen Ausgrenzung, Ignoranz, Vorurteile und Gewalt“, aber für Behinderte, Alte, Ausländer, Arbeitslose ... Eine Reise über die Grenzen im eigenen Kopf sollte es werden. Ein weites Feld fürwahr, zu weit, um es den Wittenbergern zu erklären. Und doch gibt es in Wittenberg ein Fest. Am Donnerstag nachmittag werden Bewohner eines naheliegenden Behindertenprojektes zum Marktplatz gebracht, zu einer Musik- und Malaktion.
Zwischen den Behinderten gibt es erst gar keine Grenzen, die überwunden werden müssen. In kurzer Zeit sind alle möglichen Funken gesprungen und Freundschaften fürs Leben geschlossen worden. Der ganze Marktplatz hallt wider vom Trommeln einer spontan entstandenen Percussion- Band aus Kindern, Passanten und kleinen, sehr elegant trommelnden mongoloiden Männern. Ein Kinderzirkus hat Keulen und Einräder mitgebracht, an denen sich Wittenberger Kinder in Klassenstärke versuchen.
Finanziert wird das Projekt im Wesentlichen von kleineren Sponsoren und den Organisatoren selbst, die teilweise ihr Konto nenneswert überzogen haben. Die Teilnehmer zahlen einen Beitrag, der bei 1.000 Mark liegt.
„In dubio pro libido“ heißt das Lieblingslied der Blauen Karawane, ein Stück aus der Blaumeier- Produktion. Wie wahr, wenn denn bloß ein bißchen öfter die Sonne schiene. Burkhard Straßmann
Die nächsten Stationen der Blauen Karawane: 20. 8. Magdeburg; 21. 8. Wolfsburg; 22./23. 8. Hannover; 24./25. 8. Minden; 26. 8. Bis 4. 9. „Karawanserei“ in Bremen
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