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„Das erste Mal seit 1938 hier“

Völkerverständigung mit dem Knobelbecher: Deutsche, tschechische und polnische Kriegshandwerker wanderten gemeinsam durchs Dreiländereck / Blasmusik, „Bürgerbegegnung“ und Barett-Tausch  ■ Von Detlef Krell

Ein sonniger Dienstagvormittag. Beethovens „Yorckscher Marsch“ scheppert über den barocken Marktplatz von Zittau. Die PassantInnen sind vorgewarnt, das Exerzierfeld ist weiträumig abgesteckt, neben dem Ratsportal wehen Fahnen. Während das Heeresmusikkorps 400 aus Potsdam bläst, was das Blech hält, marschieren auf dem Kopfsteinpflaster die Soldaten auf. Sie tragen blaue und rote Baretts, erdgraue und grüne Schirmmützen. Es sind polnische, tschechische und deutsche Uniformierte.

Marschieren – dieser Ausdruck trifft es nicht ganz. Die Soldaten begeben sich auf den Platz, in lockerer Formation, wie Fußballmannschaften zur Siegerehrung. Denn in Zittau, der Kreisstadt im Dreiländereck, soll kein Manöver „Waffenbrüderschaft“ beginnen. Waffen bleiben diesmal im Schrank, Jeeps in der Garage. Wandern sollen diese sechzig Soldaten, wandern über Grenzen hinweg. Freunde werden sollen sie unterwegs, als lebendige Beweise für den „Exportschlager Bürger in Uniform“, auf den die Bundeswehr so betont stolz ist.

Noch vor dem Antreten war die Presse in den festlichen Bürgersaal des Rathauses geladen. Generalmajor Ekkehard Richter, Befehlshaber im hiesigen Wehrbereich, war ganz aus dem Wachhäuschen: Die Wanderung sei Höhepunkt der bereits seit 1991 gepflegten „Kontakte“ der drei benachbarten Militärverbände. Endlich hätten nun auch die Soldaten „Gelegenheit, die Verhältnisse im jeweils anderen Teil Europas kennenzulernen“.

Sachsens Innenminister Heinz Eggert (CDU) meinte, das Volk solle öfter „der großen Politik einen Schritt voraus sein und tun, was man kann“. Brigadegeneral Leonard Boguszewski, Vizechef im Militärbezirk Schlesien, verlas eine schier endlose Liste von Beispielen für lebendige Soldaten- Nachbarschaft entlang der Neiße. Für die tschechische Armee lobte Oberst Václav Vavrich die deutsche Idee, gemeinsam auf Freundschaftspirsch zu gehen.

Die Musik ist verklungen. Inzwischen haben sich die Wandersleute zum Appell aufgestellt, „in gemischten Zügen“, wie die Militärs erklären. Einige hundert ZittauerInnen stehen drum herum. Sie hören ihren Innenminister sagen, es sei „wohltuend, die Bevölkerung im Rücken“ zu wissen. „Vor Jahren wäre an dieser Stelle wohl statt einer Wanderung ein Manöver der Warschauer-Pakt- Staaten eröffnet worden.“ Er erinnert an die Invasion gegen den Prager Frühling 1968 und an den Exodus der DDR-BürgerInnen 1989. Rudi, ein Passant im Vorruhestandsalter, steht mit Frau und Enkel hinter dem Rednerpult. „Das kennt man ja von früher. Doch da war mehr militärischer Pomp. So wie jetzt ist es besser.“ Frauen mit prallen Einkaufstaschen wundern sich: „Was ist denn hier los?“

Das Musikkorps spielt die drei Nationalhymnen und hängt noch ein „Platzkonzert“ dran, während die Soldaten sich auf den Weg machen. Zwei Kilometer sind es bis zur Neiße. Vorneweg eilt, durch Gassen und Einbahnstraßen, der Journalistenpulk. Am Grenzübergang bringen Kamerateams ihr schweres Gerät in Anschlag. Dann kommen sie: Die ersten Soldaten geraten ins Bild, gut gemischt und einsilbig. Nur um den Minister herum wird munter geplaudert. „Schön, daß Sie uns durchlassen“, ruft der hemdsärmlige Eggert dem Posten zu. Sekunden dauert der historische Moment, schon pilgern die Missionare im Knobelbecher auf polnischer Landstraße.

Nun schlurft die Presse den Ereignissen hinterher. Überholen geht nicht, die Straßengräben liegen nah beieinander und die nächste Grenze nur eine Viertelstunde Fußweg entfernt. Am weit geöffneten Schlagbaum zum tschechischen Ort Hradek warten Blasmusik und Bürgermeister. Wieder werden artig Ansprachen gehalten, dann führt böhmische Musik die Wanderer in den Grenzort. Im Rathaus gibt der Bürgermeister einen Empfang für die höheren Dienstgrade; auf dem Platz mischen sich die Armeen unter die Passanten. Die Hradeker wußten aus dem Stadtfunk von der Ankunft der Truppe. Neugierige Gesichter, spielende Kinder, auch ernste Blicke der Älteren. Im Lebensmittelladen gibt es das Bier für deutsches Geld, schon bald bekommen die wenigen Dolmetscher etwas zu tun. Der Hradeker Marktplatz feiert ein bißchen, und immer wenn die Musikanten pausieren, werden Wortbrocken zu ersten Gesprächen gefügt.

Uniformierte Deutsche auf tschechischen Straßen – jede TschechIn, die Deutschkenntnisse von sich gibt, wird von Reportern wieder und wieder befragt, wie sie sich denn „dabei fühlt“. Auf dem Marktplatz von Hradek an der Neiße wird der inszenierte Hintersinn dieser medienwirksamen Wanderung offenbar: Sie soll den Nachbarn auch einmal vorführen, wie „unverkrampft“ (Roman Herzog) sich „die Deutschen“ doch schon bewegen können, auch in Uniform.

Josef Hradik, ein Rentner am Straßenrand, mag keine Parallelen zu den deutschen Uniformen im „Protektorat Böhmen und Mähren“ ziehen. „Die Geschichte ist nicht vergessen“, diktiert er der Presse, „aber es ist an der Zeit, in Frieden zu leben.“ Und die 63jährige Gertrud Bahac meint: „Wenn die Soldaten nicht mit Gewehren kommen, sondern mit Musik, ist das gut so.“

Nach einer guten Stunde sammeln sich die Soldaten am Bus. Nächste Station ist die Kreisstadt Liberec; zum Wandern zu weit. Sichtlich erfreut über den Auftakt der Dreiländertour erzählt Oberstleutnant Jochen Kindermann, Pressesprecher im Verteidigungsbezirk Dresden, von einem Seminar in der Evangelischen Akademie Meißen. Zum Ende der Diskussionsrunden habe ein tschechischer Offizier vor dem Seminar ein Baby an die Tafel gezeichnet und, während er dieses Baby in den drei Länder-Farben ausmalte, gesagt: „Betrachten wir unsere Freundschaft als ein Baby, das der Pflege bedarf und dessen Eltern wir sind.“ Einen Moment sei es totenstill gewesen in dem Seminarraum, dann habe der tschechische Offizier „stürmischen Beifall“ bekommen.

Nachmittäglicher Trubel auf dem Liberecer Marktplatz. Hier trifft sich die Stadt mit ihren Gästen. Die Cafés unter den Arkaden sind voll besetzt. Unter Jugendstillaternen hat sich eine Gruppe Punks niedergelassen. Zuerst werden die Café-Gäste vor dem Hotel Praha stutzig. Dumpfes Dröhnen sickert auf den Platz; Marschmusik, jetzt erkennen es auch die anderen. Gespräche verstummen, alle Köpfe drehen sich zur selben Straßenmündung. Die Musik schwillt an, dann zieht sie, wie ein Magnet, den weiten Platz beinahe menschenleer. Mit klingendem Spiel erscheinen Uniformierte vor dem Rathaus. Die Café-Gäste sehen sich den Aufmarsch an, ungläubig, skeptisch; nur einige Jugendliche lachen laut heraus. Ein zwölfjähriges Mädchen bringt es fertig, nach dieser deftigen Blasmusik zu tanzen. Doch plötzlich bricht die Musik ab. Die Marschformation zerfällt in Grüppchen. Manche suchen sich Plätze in einem der Cafés, kommen mit Zivilisten ins Gespräch. Vor dem Rathaus erkundigt sich die Pragerin Eva Heffnerova bei „ihren“ Soldaten nach dem Sinn des Aufzuges. Sie ist heute mit Freunden aus Los Angeles in ihre Geburtsstadt gekommen. „Ich bin froh“, meint die junge Frau, „daß so eine Freundschaftswanderung unternommen wird.“ Ein agiler Mann, 74 Jahre alt, wird von einem Reporter zum anderen gereicht. Mit ernstem Blick spricht er in die Kameras: „Vor fünfzig Jahren, das war schlimm, als deutsche Soldaten auf dem Marktplatz standen. Aber heute ist doch eine andere Zeit.“

Er hört nicht den kurzen deutschsprachigen Wortwechsel in einer anderen Ecke des Marktplatzes. Ein Bundeswehrgefreiter meint eher nachdenklich: „Es ist doch schön, daß man jetzt auch mit einem Militärauto über die Grenze fahren kann.“ Dem Adressaten dieses Satzes, einem Hauptmann, ist da feierlicher zumute: „Es ist erhebend“, läßt er den Untergebenen wissen, „das erste Mal seit 1938 stehen wir wieder hier. Noch lieber wäre es mir, wir würden hier auf dem Marktplatz mit einem Panzer stehen.“ Der Gefreite widerspricht nicht, er weiß: „Solche Sachen hört man oft.“ Fotos des Nazi-Generals Rommel, Bilder von SS-Uniformierten seien in Bundeswehrkasernen keine Seltenheit.

Die Freundschaftswanderung absolviert ihre Stationen, wie sie an den Stabskarten der drei benachbarten Militärregionen ausgedacht wurden. Nach der Besteigung des Jested, des höchsten Berges im Isergebirge, entspannen die Soldaten beim „Kameradschaftsabend“. Am nächsten Morgen, beim Sportfest auf einer Übungsanlage mit dem Namen Ruprechtice, berichtet Sanitätsoberleutnant Horst: „Geplant war der Abend bis 22 Uhr. Halb zwölf sind die letzten gegangen. Tagsüber hatte sich ja nur vage angedeutet, daß sich die Soldaten näherkommen. Doch abends, beim Bier, sind die letzten Schranken gefallen. Die Mannschaften haben getauscht, was sie nur von ihren Uniformen tauschen konnten: Abzeichen, Bataillonswappen; ich denke, zum Abschluß dieser Tour werden wohl viele mit einer fremden Mütze nach Hause fahren. Das wird schon ein bunter Haufen werden.“

Anders als die meisten seiner Soldaten, die in Sachsen aufgewachsen und wenigstens zum Einkauf schon mal „rübergefahren“ sind, ist der aus Würzburg nach Leipzig übergesiedelte Offizier zum ersten Mal in Tschechien und morgen auch in Polen. Nachdem er nun „mit der Bundeswehr in den Osten gekommen“ ist, überlegt er, mit der Ehefrau eine zivile Reise nachzuschieben. „Ich habe hier gemerkt, daß meine Schwellenangst unbegründet ist, man muß auch mal zu seinem Glück gezwungen werden.“ Auf dem Liberecer Marktplatz habe er sich überraschend gut angenommen gefühlt. „Da fühle ich mich auf offener Straße in Hessen weit mehr angefeindet, dort möchte ich nicht in Uniform stehen.“

Der Konvoi begibt sich zur polnischen Grenze. Auf dem Weg fährt er durch eine liebliche Landschaft, durch verträumte Dörfer, in denen die verdutzten Leute mit ihren Fragen zurückbleiben. Bald ist der tschechische Grenzort Habartice erreicht. Kontrolle gibt es heute keine. Auf der anderen Seite, im polnischen Zawidow, warten Hunderte Menschen auf die seltsamen Besucher. Zwei Mädchen mit Blumensträußen werden vorgeschickt, der Bürgermeister hält eine Rede. In den Blicken der Einwohner von Zawidow liegt etwas von verhaltener Neugier und Skepsis.

Zwei Frauen kommen mit einem Bundeswehroffizier ins Gespräch. Maria Lakomiec erzählt, mit wenigen Worten und freundlich lächelnd, ihre Lebensgeschichte. Sechzehn Jahre jung war die Frau, als sie in der polnischen Armee gegen die Faschisten kämpfte. Bis nach Berlin ist sie gekommen. Ihre Eltern wurden in der Ukraine von Nationalisten ermordet. Sie zeigt auf ihre Begleiterin: „Meine Schwester mußte als Zwangsarbeiterin in die deutsche Rüstungsproduktion.“ Dem Reporter schreibt sie unter ihren Namen ins Notizbuch einen Gruß: „Willkommen in Polen!“

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