„Aus. Gestorben. Umbau“

■ Jugendfilmprojekt „Fremdsein in Deutschland“ / 22 Schüler und Studenten drehen einen ungewöhnlichen Film in Berlin / Unterstützung von der DEFA

Über der Tafel im 1. Gymnasium Mitte lächelt ein Honecker- Portrait. Vier Styroporwände werfen den Schein von Beleuchtungsstrahlern indirekt in den Raum. Quer durch die Klasse ist eine Schiene gelegt, auf der Kamera plus Team einen Schwenk fahren. 22 Schüler und Studenten aus dem niedersächsischen Bad Iburg drehen zur Zeit einen ungewöhnlichen Film in Berlin. Interviews mit Zeitzeugen und Spielszenen über den Umgang mit Minderheiten in Deutschland werden mit Archivmaterial angereichert. So bezieht sich der Titel „Fremdsein in Deutschland“ nicht nur auf heutige Ausländerfeindlichkeit, sondern beleuchtet sowohl die Verfolgung von Juden als auch die Ausgrenzung von Andersdenkenden in der DDR.

Mit einem Knall fällt die schwarzweiße Klappe, fällt vor dem Gesicht von Christiane Ketteler, die am Klavier sitzt. „Fremdsein in Deutschland, 148, die erste.“ Die 17 Jahre alte Schülerin spielt eine von ihr selbst geschriebene Szene: ein Streit zwischen zwei Musikschülern in der ehemaligen DDR. Sie will ihre Verwandten im Westen besuchen, ihr Mitschüler im FDJ-Hemd beschimpft sie als „politische Querulantin“ und belehrt sie: „Die Mauer heißt nicht umsonst antifaschistischer Schutzwall.“ „Wer denkt sich bloß so was aus?“ fragt sich Christiane alias Helga leise.

„Aus. Gestorben. Umbau“, sagt DEFA-Regisseur Horst Seemann, den die Jugendlichen für ihr Filmprojekt gewinnen konnten. Weitere professionelle Hilfe bekamen die Schüler von Wolfgang Kolneder vom Berliner Grips-Theater. Schauspielunterricht gab Uwe Zerbe von der Distel. „Es wird ein einmaliger Film, den muß man unterstützen“, meint Seemann. Ihm gefalle besonders die pädagogische Methode von Helmut Spiering, dem Initiator des Projekts. Der Gymnasiallehrer habe die Jugendlichen motiviert, sich mit Geschichte einmal anders als mit trockenen Büchern auseinanderzusetzen. Seit 15 Jahren begleitet der Mathematik- und Erdkundelehrer seine Klassen auf Exkursionen nach Berlin. Dabei knüpfte er Kontakte zu Zeitzeugen wie Wolfgang Stresemann, der als Sohn von Gustav Stresemann die Weimarer Republik erlebte. Er lernte Gad Beck kennen, einen der 600 Berliner Juden, die 1943 schon zur Deportation verhaftet, aber dank Bürgerprotesten wieder freigekämpft wurden.

Auf seinen Berlinreisen führte Spiering Gespräche mit dem Filmproduzenten Artur Brauner, mit Rainer Hildebrandt, Widerstandskämpfer und Leiter vom „Haus am Checkpoint Charlie“, der DDR- Bürgerrechtlerin Ulrike Poppe, dem ehemaligen SED-Politbüro- Mitglied Günther Schabowski und dem russischen Menschenrechtler Lew Kopelew.

„Vor zwei Jahren kam mir dann die Idee, das Ganze filmisch festzuhalten“, erinnert sich Helmut Spiering an die Geburt des künstlerischen Experiments, bei dem all diese Zeitzeugen zu Wort kommen. „Geschichte live“, kommentiert Spiering. „Ton ab – Ton läuft“, kommt das Signal vom Tonmeister, der – wie die gesamte Technik und Crew – von den Filmstudios in Babelsberg gestellt worden ist. „Idiot“, zischt Helga ihrem Mitschüler zu, der die Tonleiter auf seiner Trompete rauf und runter bläst. Christiane findet, es „macht tierischen Spaß, ist aber auch anstrengend“, sich in eine fremde Rolle hineinzuversetzen und die Geschichte so selbst nachzuempfinden. Am 1. September muß sie wieder in die Schule, bis dahin sollen alle Szenen im Kasten sein.

Schon während der zweiwöchigen Drehzeit wird das erste Material geschnitten. Am 3. Oktober, dem Tag der Wiedervereinigung, wollen die Schüler ihren Film der Öffentlichkeit vorstellen. Zunächst soll er in ausgewählten Kinos laufen, später auf Videokassetten kopiert als Unterrichtsfilm eingesetzt werden, damit auch andere Schüler Geschichtsunterricht nicht zum Gähnen finden müssen. Edith Beßling (ddp/ADN)