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Tütenloser Unterbrustumfang

Wiegen ist Privatsache – nur (noch) nicht in Berliner U-Bahnhöfen  ■ Von Caroline Roeder

„Einstweilen ist die simple Regel ,Menschen, die fett aussehen, sind fett‘ für die meisten klinischen Zwecke ausreichend.“

So lapidar endet der definitorische Teil eines medizinischen Aufsatzes über Fettsucht. Doch so einfach ist es dann doch wieder nicht. Denn der fettprüfende Blick ist ebenso wie die Bewertung des Körpergewichts kulturell geprägt. Man denke zum Beispiel an Aga Khan, der sich jährlich öffentlich wiegen ließ und dessen stetem Kilozuwachs das Fußvolk jubelnd Tribut zollte; oder an unseren Kanzler am Wolfgangsee, der allsommerlich die deutsche Öffentlichkeit stolz am Verlust von Pfunden teilhaben läßt. Jede Zeit und Gesellschaft hat so ihr ganz eigenes Leibesumfangsverhältnis.

Abgesehen von diesem öffentlichen Interesse an königlichem oder VIP-Fett, ist das Körpergewicht aber eher zur Privatsache geworden. In früheren Zeiten standen die Waagen zur öffentlichen Gewichtskontrolle allerorten. Heute dagegen hat sich das Wiegen zur Selbstkontrolle entwickelt, im Prozeß der Zivilisation hielt die für jeden erschwingliche Waage im privaten Badezimmer Einzug.

Aber es gibt sie trotzdem noch, die Personenwaagen in öffentlichen Räumen. Requisiten ähnlich, stehen sie vereinzelt an unerwarteten Orten, und man weiß nicht recht, ob sie vielleicht einfach stehengeblieben sind, weil sich niemand mehr darum kümmerte. Finden kann man sie zum Beispiel in Berliner U-Bahnhöfen.

Künstlerisch ausgeführte Apparate

Die erleuchteten Anzeigen zeigen an, daß sie noch in Betrieb sind. Rund 50 Stück gibt es noch in der Stadt, und alle Modelle stammen aus den zwanziger Jahren. Hergestellt wurden sie von den Sielaff- Werken, die damals ihren Hauptsitz im Berliner Stadtteil Neukölln hatten.

Dabei waren die Waagen nur ein Nebenprodukt dieser Firma, ihr Hauptumsatz lag im gerade boomenden Automatenwesen. Überall in Deutschland entstanden Automaten-Restaurants, 1907 gab es in Berlin bereits neun davon. Der Enthusiasmus für die automatisierbare Verkaufswelt führte zu ausgefallenen Objekten: Das Model „Oase“ lieferte gekühlte Orangeade, die „eierlegende Henne“ Süßigkeiten, es gab Buchautomaten, solche für Bier und für heiße Würstchen.

Mit dem Slogan „Höhepunkt der Hygiene! Das Entzücken jedes Benutzers! Krankheitsübertragungen ausgeschlossen“ wurde im Prospekt der Firma Sielaff für den Hände-Wasch- und Trockenautomaten Manuclavex geworben: „Der künstlerisch ausgeführte Apparat bildete eine Zierde des Toilettenraums.“

Sielaffs Personenwaagen haben den Weltkrieg überstanden, wurden durch die Mauer aber voneinander getrennt. Bis 1945 war ein Herr Claasen Herr und Hüter aller Berliner Waagen. Der ehemalige Kompagnon des jüdischen Unternehmers Sielaff hatte in den dreißiger Jahren das Imperium übernommen.

Es heißt, er habe einen Teil der Apparate in Nacht-und-Nebel- Aktionen in den Westteil der Stadt geschafft. Im östlichen Teil der Stadt wurden die Personenwaagen sozialistisches Volkseigentum, bis sie erneut eine Privatperson erwarb und – gegen geringe Pacht an die Ostverkehrsbetriebe – betreute. Jetzt wog getrennt, was einst zusammengehörte.

Nach 1945 gab es hüben wie drüben kaum noch Waagen in Privathaushalten, und die sich vornehmlich öffentlich Wiegenden hofften auf mehr statt – wie heute üblich – weniger Kilos auf der Anzeige: Dick war identisch mit wohlhabend. Und die Parole „Sich wiegen heißt Gesundheit prüfen“ war angesichts einer mangelhaft ernährten Bevölkerung wörtlich zu verstehen.

Ab und an dienten die Geräte als nützliches Instrument für den Schwarzmarkthandel, Kartoffelsäcke wurden nachgewogen oder ähnliches Gut geprüft.

Geeichtes Idealgewicht

Das Verhältnis zum Gewicht hat sich in der nun 70jährigen Geschichte der Waagen gewandelt, gleichgeblieben ist erstaunlicherweise der Preis.

Zehn Pfennige kostet die Gewichtsauskunft nach wie vor, ungachtet aller politischen und ästhetischen Veränderungen. Die Rentabilität dieser Branche erscheint also mehr als fragwürdig. Denn Peter Schulz, der seit der Wende wieder alle Berliner Waagen betreut, berichtet von einer Sechs-Tage- Woche, die für Wartung und die Leerung der Apparate anffällt. Über Geld will er nicht reden. Verständlicherweise.

Also kann man nur schätzen: Annähernd 36.000 Menschen müßten sich in Berlin öffentlich wiegen, um auf ein nicht üppig bemessenes Gehalt zu kommen. Das wären 700 Menschen pro Tag und Waage in Berlin. Folglich müßten sich eigentlich Schlangen bilden und die U-Bahnhöfe zu Wiegestationen werden.

Die Handhabung ist denkbar einfach: Die meisten Personenwaagen haben zwei Haltegriffe, die den Sichwiegenden zum Stillstand kommen lassen sollen. „Still stehen, Hände loslassen“, steht als Anweisung über der Kartenausgabe. Durch eine Glasscheibe betrachtet man den von innen beleuchteten Mechanismus.

Beim Modell W 2 ist an der Seite ein Spiegel angebracht. Dem sich darin prüfend Betrachtenden soll wohl signalisiert werden: Es hilft alles nichts, leider du bist das, der soviel wiegt. Obligatorisch ist die Gewichtstabelle auf der Frontseite der Waage sowie ein Metermaß meistens seitlich angebracht. Die Tabelle unterscheidet Mädchen/Knaben und Männer/Frauen und teilt das Gewicht nach Körpergröße zu. Immer frei nach der Faustregel: Körpergröße in Zentimetern minus 100, minus zehn Prozent.

Diese Berechnungen werden von Personen mit vermeintlich „schwerem Körperbau“ bekanntlich gern bezweifelt. Doch die neuere wissenschaftliche Forschung rechnet gar nach einer ungleich komplizierteren Formel. Körpergröße in Zentimetern mal Unterbrustweite (!) – ebenfalls in Zentimetern – dividiert durch 240: das ist das wahre Idealgewicht. Womit allerdings „ein sehr modisches Idealgewicht berechnet (wird), das eher dem unteren Rand der Gaußschen Verteilungskurve der Normalbevölkerung entspricht“, wie eine aktuelle Untersuchung einräumt.

Doch kaum sieht man jemanden die Waagen ernsthaft nutzen. Ab und zu steigen Kinder zu, beeindruckt vom heulend anspringenden Motor der Waage und dem beleuchteten Innenleben; oder Touristen und Jugendliche, die nichts zu tun haben oder sich einen Jux machen wollen. Und ab und an sieht man auch Wunderliches: eine ältere Frau zum Beispiel, in einen dicken Mantel gehüllt und mit zwei schweren Einkaufstüten bepackt, die sie beim Wiegen nicht aus der Hand läßt.

Ein Einzelfall, denkt man. In diesen Zeiten, wo nicht nur Kinder aufs Gramm genau gewogen werden, sondern auch jeder Bissen in Kilojoule bemessen wird, jeder Schluck einem Tabellenwert entspricht, wiegt sich doch kein Mensch im Mantel geschweige denn mit Gepäck. Dem digitalisierten Schlankheitsideal angemessen wäre vielmehr, daß sich die Menschen auch hier nackt auszögen, bevor sie auf die Waage steigen. Doch davor steht die anthropologische Konstante der Scham.

Peter Schulz, der natürlich auch die Wiegegenauigkeit der Apparate prüft, gibt für sein eigenes Meßverfahren an: „Mit Tasche 67 Kilo, dann weeß ick, daß dit stimmt.“ Bedenken gegenüber dieser Eichmethode widerlegt er vehement: Die Werkzeugtasche wiege exakt vier Kilogramm.

„Das Handbuch des Wägens“, ein Kompendium von über 800 Seiten über die ersten Wiegeversuche bis zum computerisierten Zeitalter, gibt trostvoll Auskunft: „Die Unsicherheit ist Ausgangswert für die Unsicherheit aller weiteren Massenanschlüsse sowie für sinnvolle Fehlergrenzen von Gewichtsstücken für höchste Genauigkeitsansprüche.“

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