Cooler Sommer

■ In den Randnotizen fängt sich das Leben. Eine Novelle von Matthias Altenburg

„Das Leben“ – drunter tut er's nicht. „Ich will Ihnen sagen, was los ist: das Leben.“ Diesen Spruch von Grace Paley zitiert Matthias Altenburg im Motto seines neuen Buches „Die Toten von Laroque“. Schon in seinem sehr kontrovers diskutierten Erstling, „Die Liebe der Menschenfresser“ (1992), unternahm er den Versuch, „geraffte Wirklichkeit“ zu sammeln, an den „dirty places [...], wo Bisse und Küsse so schwer zu unterscheiden sind“. So zumindest forderte es Altenburg selber in einem damals fast zeitgleich erschienenen Artikel im Spiegel, in dem er mit der deutschen Gegenwartsliteratur hart ins Gericht ging.

Im Gegensatz zu seinem handlungsprallen Debüt läßt es Altenburg diesmal leiser angehen. Dirty places werden nicht aufgesucht, sondern Frankreich dort, wo es am schönsten ist, am Meer in der Nähe der spanischen Grenze. Dorthin bricht der deutsche Lehrer und Ich-Erzähler Schäfer aus, dem sein Leben, seine Frau, vor allem aber sein Heimatland fremd geworden ist. Die große Flatter also, und zunächst ein Road movie, das in Laroque endet, einer Kleinstadt, die auf keiner Karte verzeichnet ist, von der Schäfer aber durch seinen Vater gehört hat.

Laroque: verschlafen, abseits der Straße gelegen, ein leerer Marktplatz in der Mittagshitze, Staub, in der Nähe das Meer. Schäfer bleibt hier hängen, weil sein Auto eine Panne hat, quartiert sich bei einer rätselhaften Alten in deren Pension ein, sitzt vor dem Café, trinkt Wein, stromert in der Umgebung herum, lernt nach und nach diverse Einwohner kennen, mit denen er sich unterhält – und bleibt doch immer „der Deutsche“, ein Fremder. An den „Fremden“ von Camus muß der Leser häufig denken, aber auch an Frischs „Homo Faber“. Vielleicht sind das Leitbilder für Altenburgs Hauptfigur, die allerdings auch in der gegenwärtigen Literatur seiner Zeit- und Altersgenossen etliche Brüder hat. Bei Jochen Schimmang, bei Ralf Rothmann, bei Ulrich Woelk, Helmut Krausser, Bodo Morshäuser: überall findet man diese müden, apathischen, zynischen Männer, die als anteilnahmslose Beobachter cool durchs Leben gehen und sich nicht einmischen. Vielleicht ist es Autoren der um 1960 geborenen Generation auch nicht möglich, andere Charaktere zu schildern. Das Leben – es findet vor dem Fenster statt, auf dem Marktplatz, auf der Bühne eines Nachtclubs: Der Protagonist ist ein Voyeur, der unter seiner Lebensferne leidet und sich anläßlich der Erinnerung an ein harmloses erotisches Kindheitserlebnis danach sehnt, „daß noch einmal etwas geschieht, das einen solchen Eindruck auf mich macht“.

Das Leben, eine Angelegenheit der Vergangenheit. Und die holt den passiven Nachgeborenen in der Regel ein, so auch bei Altenburg. Was geschah in Laroque? Warum reagieren die Menschen so abweisend auf den deutschen Lehrer? Laroque war von deutschen Soldaten okkupiert, die sich „über die Männer und Frauen hermachten“. Aber Genaues erfährt man nicht, denn Schäfer interessiert sich nicht für die Andeutungen der Bewohner, geht Gesprächen über die Vergangenheit aus dem Weg: „Ich wollte davon nichts wissen.“ Durch dieses Desinteresse beschwört der selbstbezogene Reisende – ohne es zu wollen – die Wiederholung der Geschichte herauf: Als er sich in die Kellnerin des Cafés (nebenbei pflegt er eine rein sexuelle Beziehung zur Lehrerin des Ortes) verliebt, nimmt die Katastrophe ihren Lauf.

Wer sich raushält, wird schuldig: Das wäre dann wohl die Moral der Geschichte, einer einfachen, vertrauten, aber handwerklich routiniert vermittelten Geschichte. Man findet mancherlei schöne Beobachtungen: Schulkinder am Strand, die Liebesgeschichte, die ein alter Mann am Grab seiner Frau erzählt, die Jugendlichen, die mit ihren Fahrrädern und Mopeds den Marktplatz umrunden, „als gebe es auf dieser Welt nichts Schöneres, als sich im Kreis zu bewegen, zwischendurch anzuhalten, die Hände auf den Lenker zu stützen, ein paar Sätze mit den Freunden zu wechseln und wieder loszufahren – und wer weiß, vielleicht gibt es ja wirklich nichts Schöneres“. Was da los ist, in diesen kleinen Randnotizen: das ist das Leben.

Die Erzählung hat allerdings mancherlei Schwächen: Natürlich müssen die Zähne der geliebten Kellnerin „weiß und ebenmäßig“ sein, reichlich penetrant sind auch die Liebesszenen mit der Lehrerin geraten („Sie war rasiert und ihre Schamlippen kamen mir ungewöhnlich groß vor“) und der obligatorische Besuch im Bordell (muß das eigentlich in jedem Buch von Altenburg sein?), äußerst platt manche Reflexionen des Helden, der sich zum Beispiel den Kopf darüber zerbricht, wie viele Insekten man so en passant tottritt und daß es mehr Tote als Lebende gibt. Solche Grübelei legt man eigentlich mit der Pubertät ab. Ein bißchen peinlich auch das Bildungsgeprotze und die Selbststilisierung des Helden als großer Rätselhafter („Wissen Sie, Sie sind ein merkwürdiger Mensch“, sagt die Kellnerin zu ihm, natürlich). Und die Architektonik der Geschichte kracht auch ein wenig: Muß die Leserschaft ausgerechnet durch eine Wahrsagerin darauf vorbereitet werden, daß es jetzt auf die dräuende Klimax zugeht? Eine sonderbare Unentschiedenheit: Einmal fragt sich der Erzähler, ob das Unheil aufzuhalten gewesen sei, ob es genügt hätte, „einem flüchtigen Blick, einer unauffälligen Handbewegung, einem dahingesagten Wort mehr Beachtung zu schenken, und alles wäre anders gekommen“. Am Ende bleibt aber die Frage, „was das alles zu bedeuten habe. Ich wußte keine Antwort darauf. [...] Und ich wußte, daß ich genausogut eine andere Geschichte aus einem anderen Sommer hätte erzählen können.“

Hier können wir allerdings nicht zustimmen: Interessanter als irgendeine Geschichte „aus einem anderen Sommer“ ist das Buch allemal. Und besser als „Die Liebe der Menschenfresser“. Die Richtung macht neugierig. Thomas Schaefer

Matthias Altenburg: „Die Toten von Laroque“. Novelle. Eichborn Verlag, 124 Seiten, geb., 24,80 DM