■ Gab es zwischen Enteignung und Einigung ein Junktim?
: Das ausgeschlagene Erbe

Die normalen Tätigkeiten des Elder statesman Gorbatschow bewegen sich im vorgezeichneten Rahmen: Stiftungsgründung, hochdotierte, Kontinente umspannende Vortragstätigkeit, ab und zu Abfälliges über den Nachfolger. Letztes Wochenende hat Michail Gorbatschow einen echten Coup gelandet und das konventionelle Rollenverständnis betreffs pensionierter Staatsmänner gesprengt. Dieses Kunststück ist ihm mit nur vier Worten gelungen: „Nein, das stimmt nicht.“ Der ehemalige sowjetische Präsident hat auf eine entsprechende Frage des britischen Historikers Stone hin verneint, daß es für die sowjetische Seite bei den 2+4-Verhandlungen ein Junktim zwischen der Zustimmung zum Vertrag und der Zusicherung von deutscher Seite gegeben habe, die Enteignungen in der sowjetischen Besatzungszone zwischen 1945 und 1949 zu respektieren. Haben also der Außenminister Schewardnadse und der Ex-Botschafter in der DDR, Kotschenasow, auf eigene Faust gehandelt, als sie den damaligen Ministerpräsidenten de Maizière von just diesem Junktim in Kenntnis setzten? Oder haben sie – horribile dictu – ihre Non- papers, Aidemémoires“ etc. nur losgeschickt, um den DDR-Leuten einen Gefallen zu tun? War also das Beharren auf den Ergebnissen der Bodenreform gar keine Spezialität der Sowjets, sondern Produkt der Sorge von ostdeutschen Politikern um die Rettung von „DDR-Identität“ im Vereinigungsprozeß?

Viel spricht dafür, daß die sowjetischen Diplomaten (selbstverständlich mit stillschweigender Billigung Gorbatschows) den DDR-Politikern diesen Gefallen taten. Die sowjetische Regierung mußte – schon aus innenpolitischen Gründen – alles vermeiden, was auf eine symbolische Minderung ihrer Rolle als Sieger im „Großen Vaterländischen Krieg“ hinausgelaufen wäre: die Denkmäler und Friedhöfe mußten erhalten, die Spruchtätigkeit sowjetischer Militärgerichte respektiert werden etc. Demgegenüber war es den sowjetischen Unterhändlern herzlich egal, was aus den „gesellschaftlichen Errungenschaften“ in der DDR werden würde. Im Fall der Bodenreform galt dies um so mehr, als die Enteignung der Junker gar keine direkte Folge der Potsdamer Konferenz und ihres „antifaschistisch-demokratischen“ Auftrags war.

Dafür hatten sich diese Enteignungsmaßnahmen unmittelbar nach dem Krieg auf die Zustimmung der großen Mehrheit der Menschen in der sowjetischen Besatzungszone und auf den Konsens ausnahmslos aller demokratischen Parteien stützen können. Sie wurden als Elemente eines nachholenden Demokratisierungsprozesses „von oben“ akzeptiert. In dieser Massenstimmung fand ein pauschalisierendes Urteil seinen Niederschlag, wonach die ostelbischen Großagrarier wie keine andere soziale Gruppe für die Zerstörung der Demokratie und den Machtantritt Hiltlers Verantwortung trugen. Ein solches Urteil war notwendigerweise unfair gegenüber einzelnen wie z.B. den gutsbesitzenden Verschwörern des 20. Juli. Aber es war diktiert vom Bedürfnis nach Gerechtigkeit.

Unterlegenheitsgefühle gegenüber den westdeutschen Verhandlungspartnern, auch Nachgiebigkeit gegenüber dem Wunsch nach rascher Vereinigung brachten es mit sich, daß die nach März 1990 amtierende DDR-Regierung sich in der Frage der Bodenreform hinter der sowjetischen Regierung versteckte. Statt selbstbewußt auf einer Reform zu beharren, deren demokratische Substanz auch durch die erzwungene Kollektivierung der späten 50er und frühen 60er Jahre nicht ausgelöscht werden konnte. Diese Subalternität setzte sich im Urteil des Bundesverfassungsgerichts fort, das ein vernünftiges Ergebnis nur um den Preis einer fragwürdigen Konstruktion erzielen konnte: die Enteignungen 1945 bis 1949 seien zu akzeptieren, weil nur so die Einheit von den Sowjets zu haben gewesen sei.

Nicht die juristischen Konsequenzen von Gorbatschows gelungener Selbstinszenierung sind von Belang. Vergebliche Liebesmüh, dem Bundesverfassungsgericht eine Korrektur seines Urteils von 1991 nahezulegen. Das Gericht wird keine Mühe haben, die noch ausstehenden Beschwerden von ehemaligen Junkern bzw. Großbauern unter Hinweis auf das Dementi der (damaligen und heutigen) Bundesregierung auf Gorbatschows Enthüllung abzuschmettern. Sinnvoller wäre eine Debatte, in der zwischen Maßnahmen unterschieden wird, die der Bevölkerung der sowjetischen Besatzungszone bzw. später der DDR oktroyiert wurden, und solchen, die dem „antifaschistisch-demokratischen“ Impetus vieler Menschen entsprachen. So könnte der Boden gelockert werden, auf dem die heutigen Stereotypen über die „Ostdeutschen“ wuchern. Christian Semler