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„Für Erwachsene verboten“

Die älteste der Freien Schulen in der Bundesrepublik wird 20 Jahre / Erfahrungen veränderten die Konzepte nach selbsterarbeiteten Regeln / Wissenschaft erkennt an, daß Kinder freiwillig lernen wollen  ■ Von Heide Platen

Leonie ist zwischen den Felsen verschwunden, ein blonder Knabe sucht verzweifelt nach ihr. Er will sie unbedingt „auch zum Weinen bringen“, ganz genauso, wie sie ihn zuvor. Was sich anhört wie Gewalt unter Kindern, ist eigentlich eher ein Erproben des Geschlechterkampfes – oder auch: erstes Liebesleid und -weh.

Und gleich noch einmal Gewalt an der Schule in Aarbergen im Untertaunus, Ortsteil Kettenbach. Einem der Erzieher ist der Rucksack eines kleinen Jungen ins Gesicht geflogen, als er versehentlich in eine Rangelei der Kinder geriet. Verbissen reibt er die getroffene Stelle: „Du hast wohl Backsteine da drin.“ Nein, nur eine gutgefüllte Brotbüchse. Der Erwachsene mußte sich auch an diesem Tag wieder darin üben, die Regelung von Konflikten vorerst den Kindern zu überlassen. Das, haben Eltern und LehrerInnen in ihren gesammelten Erfahrungen immer wieder festgestellt, fällt ihnen anfangs sehr schwer, gehört aber zu den Grundprinzipien der Freien Alternativschulen (FAS).

Keine Zensuren, keine Zeugnisse, keine Klassen, keine Stundenpläne, Fehler als notwendige, akzeptierte Voraussetzung des Lernens und nicht als sanktioniertes Versagen? Die FAS hatten viele Väter und Mütter aus der Kinderladen-, der Frauenbewegung, aus Antipädagogik und reformfrustrierter Lehrerschaft.

Die älteste Freie Schule der Bundesrepublik in der Frankfurter Vogelwaidstraße wird in diesem Herbst 20 Jahre alt. Ihre Erfahrungswerte über Mathetik, die Lehre vom Lernen des Kindes, das pädagogische Reizwort Selbstregulation und Probleme beim Schulwechsel werden mittlerweile von der Wissenschaft zitiert. Knapp 20 Freie Alternativschulen sind seither in der Bundesrepublik entstanden, haben eine staatliche Anerkennung oder kämpfen darum. Andere mußten aufgeben. Die jüngsten gründeten sich in Erfurt und Leipzig. Der Bundesverband in Bochum archiviert Informationsmaterial.

Schule, hatte die CDU im hessischen Landtag im Juni in das Sommerloch posaunt, solle wieder „allgemeinverbindliche Werte“ vermitteln. Nachsitzen sei pädagogisches Mittel und es fehle an „Ehrfurcht vor Gott“, Wahrhaftigkeit, Weltoffen- und Rechtschaffenheit. Da nimmt sich das Zentralkomitee der Deutschen Katholiken liberal und modern aus. Es forderte im Juni eine Anpassung der Schule an die veränderte Gesellschaft. Sie solle lehren, das Leben „selbständig, sozial- und sinnorientiert zu gestalten“, Streitkultur, Toleranz und Gewaltfreiheit fördern.

Da ist die hessische CDU weit entfernt. Kultusminister Holzapfel konterte scharf und kündigte eine „Öffnung der Schule“ und eine „radikale Entrümpelung“ des Lehrstoffes an. Ein schwieriges Unterfangen, das oft im Glaubensstreit um die sozialdemokratische heilige Kuh Gesamtschule steckenbleibt, die zwar Chancengleichheit garantieren soll, mit ihrer Betonarchitektur und Anonymität aber oft Hort der Aggression ist, der viele engagierte LehrerInnen schon Anfang der siebziger Jahre resignieren ließ.

Renate Stubenrauchs Stimme klingt akzentuiert aus dem Erdgeschoß der Freien Schule in der Frankfurter Vogelwaidstraße: „Sech-zig, sieb-zig, acht-zig.“ Kinder üben sich mit ihr in Mathematik. Ein Junge hat ihr in zwei Tagen ein weltumspannendes Mammutlernprogramm abverlangt. Gestern wollte er alles über die Nachkriegsgeschichte Deutschlands wissen, heute interessiert er sich für die Historie des geteilten Korea. Renate Stubenrauch: „Das ist auch für mich unglaublich spannend.“ Und das unterscheidet die FAS von den Regelschulen. Die Kinder bestimmen selbst, was und wieviel davon sie wann und wo lernen wollen. Dies Konzept stieß in seinen Anfängen nicht gerade auf die Sympathie staatlicher Stellen.

Genehmigung zuerst verweigert

Noch 1975 beschied das Regierungspräsidium in Darmstadt den Antrag auf offizielle Anerkennung abschlägig. „Die völlige Planlosigkeit bzw. das Fehlen jeglicher Organisationsstrukturen hinsichtlich des Erlernens der Kulturtechniken“ lasse bezweifeln, daß die Kinder ihr Klassenziel je erreichten. Seit Gründung und Erprobungsphase vergingen dann elf Jahre bis zum „Genehmigungsfest“.

Kinder bestimmen selbst, was sie lernen wollen? Und das klappt? Fünf Mütter und ein Vater sind zum Besuchertag in die Vogelwaidstraße gekomnmen. Eine fragt voller Unsicherheit und Unglauben. Ein paar der Schulregeln irritieren sie sichtlich. Dürfen die Kinder wirklich allein an die Nähmaschinen, allein über die Straße gehen? Und selbst bestimmen, ob sie die Kulturtechniken, also Lesen, Schreiben, Rechnen, erlernen wollen? Daß die Kinder sich nach der Schule „verabreden dürfen müssen“, bei den FreundInnen übernachten können, ist Bedingung: „Wir sind dagegen, daß die Eltern das steuern.“ Und auch die Taschengeldregelung ist gewöhnungsbedürftig: eine Mark fünfzig täglich für jeden und jede, egal wie alt. Außerdem frühstücken die Kinder nicht zu Hause, sondern in der Schule. Den Tag beenden sie mit „Kakao“, einer gemeinsamen Abschlußrunde.

Eine andere wird sich der Konsequenzen erst im Gespräch bewußt. Was ist, wenn ihr Kind sich ganz autonom entscheidet, die Kulturtechniken vorerst Kulturtechniken sein zu lassen? Wenn es mit acht Jahren noch nicht lesen kann? Umzug und Schulwechsel wären unmöglich. Eine Mutter und ein Vater stehen der BesucherInnenrunde Rede und Antwort, informieren und beruhigen auch. Ja, die Kinder wollen wirklich freiwillig lernen, in den zwanzig Jahren Schulgeschichte ist kaum ein Fall von Verweigerung bekannt. Nein, die Kinderverabredungen bringen kein heilloses Chaos. Ja, der Schulwechsel gelingt reibungslos. Hier hätte auch der Berliner Pädagogikprofessor Gerhard de Haan beruhigen können. Vorzeitige Schulwechsel, stellte er fest, enden meist mit einer „weichen Landung“, weil die Kinder sozial geübt und flexibel sind.

Die Organisation der FAS ist im Untertaunus schwieriger als in der Großstadt. Die Kinder wohnen in dieser grünen Landschaft weit verstreut in den umliegenden Orten. Deshalb müssen An- und Abreise und Verabredungen untereinander sorgfältig geplant werden. Das aber erfordert mehr Elternmithilfe als in der Großstadt. Die Freie Schule Untertaunus unterscheidet sich von den Frankfurtern dadurch, daß die Eltern mitarbeiten dürfen. Sie bieten auch Kurse an und bereiten das Essen zu. Die Diskussion im Lehrerraum, Freiraum für Erwachsene, in dem Kinder nur ausnahmsweise zugelassen sind, ist ein wenig kontrovers. Michael, alleinerziehender Vater, möchte darauf nicht verzichten. Die Schule habe sein Leben, meint er, „völlig positiv verändert“. Er engagiert sich für die Schülerbands und das Sommerfest. Dafür nehmen die LehrerInnen in Kauf, daß sich Konflikte in den Schulalltag verlagern, zusätzlich Kraft erfordern. In Frankfurt organisieren Eltern nur den Betrieb und putzen – ausdrücklich nach dem Unterricht – die Schule.

Die „Temenos-Lerngruppe“ in München setzte seit 1988 ganz auf die Eltern, weil sie in Bayern ohnehin nicht damit rechnete, zugelassen zu werden. Eltern organisieren den mobilen Schulalltag im „familiären Zusammenhang“, unterrichten in Wohnungen und Werkstätten.

Kontrovers wird im Untertaunus diskutiert. Soll versucht werden, die Freie Schule bis zur 10. Klasse auszubauen? Einige Eltern und Lehrer fänden das erstrebenswert, andere warnen davor, daß dann das Konzept zu sehr verändert werden, sich mehr an die Leistungsansprüche der staatlichen Schulen anpassen müßte. Außerdem, meinen sie, gefalle den Kindern der Wechsel ganz gut: „In der Pubertät wollen sie gern so sein wie alle anderen, wollen dazugehören, andere Menschen kennenlernen.“

Die Freie Schule Bochum hat diese Erfahrungen schon gemacht. Sie begann 1989 mit 12 größeren Kindern und ohne Erlaubnis, heute kommen über 100 SchülerInnen und bleiben bis zur 10. Klasse. Manfred Borchert erinnert sich in einem Bericht, daß damals auch die LehrerInnen nicht wußten, was sie erwartet, wenn die Kinder „in einen fast regelfreien Raum“ kommen: „Es war lediglich verboten, auf das Dach zu klettern und in der Schule Feuer zu machen.“ Der Streß der Gründerphase war entsprechend: „Die Schule sah abends wie ein Schlachtfeld aus.“ Erst nach und nach erarbeiteten sich alle gemeinsam ein Konzept, das für die FAS, bei aller Vielfalt, typisch wurde: Absprachen und Verabredungen müssen eingehalten werden. Auch hier wurde die Erfahrung bestätigt, daß Kinder Regeln akzeptieren und dabei einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn entwickeln. Und auch hier lernten die Erwachsenen, bei Konflikten nicht hilflos, sondern klar und entschieden zu reagieren, weil eben „nicht ständig Harmonie und Eintracht“ herrscht. Die meisten der Probleme pendelten sich ein, das Klima verbesserte sich mit wachsender Erfahrung. Allerdings gibt es in Bochum, im Gegensatz zu anderen FAS, die Sanktion des zeitweiligen Gruppenausschlusses und teilweise Unterrichtspflicht.

Die Freie Comenius-Schule in Darmstadt resümiert: „Unsere Schule ist nicht immer nur schön für die Kinder. Manchmal ist das ständige Mitentscheidendürfen, Verantwortungübernehmen und Selbständigsein anstrengend.“

Fotolabors sind out, Holzwerkstatt ist in

Die Ausstattung der Freien Schulen variiert, ähnelt sich im Angebot aber oft. Fotolabors scheinen derzeit „out“ zu sein. In Frankfurt ist die Holzwerkstatt angesagt, mit Hochkonjunktur immer vor Weihnachten. Im Untertaunus werden die Gärtchen in diesem heißen Sommer ganz freiwillig sorgfältig gegossen. Vor dem Schülerbüro in Frankfurt schütteln zwei grazile Mädchen die blonden Lockenmähnen und verwehren den Eintritt: „Für Erwachsene verboten!“ Im Untertaunus haben die Mädchen außerdem ihren eigenen Raum: „Und das wollen die Jungen jetzt natürlich auch haben.“

Ob Theorie und Praxis übereinstimmen, zeigt manchmal der Augenschein. Die Kinder in den Freien Schulen sind ebenso laut wie anderswo. Beim Zuhören ergeben sich die Unterschied. Der von einem Kind mitgebrachte ganz kleine Bruder wird von den Mädchen von Arm zu Arm weitergereicht. Aber auch die größeren Jungen akzeptieren den Säugling ungewohnt selbstverständlich und zärtlich, führen kleinere Kinder an der Hand. „Schreibst du auch über mich?“ fragt ein Knirps. Na ja, erst dann, wenn er „groß und berühmt“ sei. Das, meint er mit Überzeugung, „bin ich doch jetzt schon“. Ein großer Dicker langt beim Mittagessen üppig in die Schüssel mit dem Nachtisch. Und wird sofort gemaßregelt. Nein, er kriegt keinen Wutanfall. Nach kurzem Maulen klatscht er die verlockende Götterspeise samt Vanillesoße wieder zurück in die Gemeinschaftsschüssel.

Die Kinder kommen untereinander mit wenigen Regeln aus. Bei Prügeleien gilt der Ruf „Stopp!“, um die Kombattanten zu trennen. In den allermeisten Fällen hilft das. Oben, auf dem Berg über der Freien Schule Untertaunus, übt sich ein künftiges Talent für die Schulband in englischem Gesang. Tonfall und Sprachmelodie trifft er schon ganz prima. Der Sinn wird sich sicher später einstellen.

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