■ Die SPD gibt den Minderheiten-Artikel preis: Wi(e)der die alte Angst
„Ich hätte nicht gewußt, wie man den Frauen und Behinderten dies erklären soll“ – Hans-Jochen Vogel meinte den „Erklärungsnotstand“, in den seine Partei geraten wäre, hätte sie im Vermittlungsauschuß das gänzlich zu Unrecht den Titel „Verfassungsreform“ tragende Paket abgelehnt. Aber wie kläglich ist die Substanz, die die Sozialdemokraten retteten, als sie nach so vielen Teilrückzügen auch noch den projektierten Grundgesetzartikel über den Minderheitenschutz preisgaben! Und woher nehmen sie die Gewißheit, daß dies die letzte Chance war, die verbliebenen Trümmersteine der Reform, die Staatsziele „tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung“ und „Behindertenschutz festzuklopfen“? Das wirkliche Motiv der SPD entstammt auch hier schlichtem Wahlkampfkalkül. Dem Gegner sollte nicht Gelegenheit zu der Behauptung gegeben werden, die Opposition habe die so mühsam bewältigte Reparaturarbeit an der Verfassung zunichte gemacht und sich damit ein weiteres Mal als destruktive, letztlich anti(verfassungs)patriotische Kraft entlarvt.
Indem die SPD den Verfassungsartikel „der Staat achtet die Identität der ethnischen, kulturellen und sprachlichen Minderheiten“ fallen ließ, gab sie genau jenes Terrain preis, auf dem die Auseinandersetzung über das künftige Selbstverständnis des „postkonventionellen“ Nationalstaats Bundesrepublik Deutschland ausgefochten werden muß. Nicht der Schutz (und die Förderung!) der sorbischen, dänischen und friesischen Volksgruppen deutscher Staatsangehörigkeit steht in Frage. Der ist in den entsprechenden Länderverfassungen geregelt. Es geht um die mehreren Millionen Arbeitsmigranten und deren Kinder, die keine Bürger der Bundesrepublik sind und denen die höchstrichterliche deutsche Rechtsprechung bislang alle politischen Rechte „unterhalb“ des vollen Staatsbürgerstatus verweigert hat. Antworte niemand, dieses Problem sei durch die verbrieften Menschenrechte des Grundgesetzes gelöst. Die universal gültigen Grundrechte sind Individualrechte, sie betreffen gerade nicht jene nationalen Kollektive, die ihre sprachlich-kulturelle Identität bewahren wollen, auch wenn sie bereit sind, sich in die deutsche Gesellschaft zu integrieren. In der ursprünglichen Fassung des von der SPD vorgeschlagenen Artikel-Entwurfs war diesen Nicht- oder Noch-nicht-Staatsbürgern wenigstens Schutz zugesagt worden (die Förderung blieb den Minderheiten deutscher Staatsbürgerschaft vorbehalten). Mit seiner Preisgabe hat die SPD scheinbar nur ein rechtlich unverbindliches „Staatsziel“ fallen lassen. Aber ihre Kapitulation hat die Initiative all derer ohne Not erschwert, die auf deutscher wie europäischer Ebene für eine Kodifikation einklagbarer Minderheitenrechte eintreten. Bedenkt man diese Folge, wäre es besser gewesen, diesen traurigen Flickenteppich „Verfassungsreform“ gar nicht erst auszurollen. Noch einmal Lenin: „Es gibt Kompromisse und Kompromisse.“ Christian Semler
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