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Ein ganz besonderer Gruß aus Moskau

Der Bürgerkrieg im nordkaukasischen Tschetschenien / Moskau will die abtrünnige Republik in die Föderation zurückholen / 200 Jahre Unterdrückung und Widerstand  ■ Von Christian Semler

Berlin (taz) – Dschochar Dudajew, Präsident der nordkaukasischen Republik Tschetschenien, erhielt zum 3. Jahrestag der Unabhängigkeitserklärung seiner Republik aus Moskau Glückwünsche der ganz besonderen Art: Er solle, so hieß es in einer Botschaft der russischen Regierung an das tschetschenische Volk, „in Würde zurücktreten, um seinem Land weiteres Blutvergießen zu ersparen“. „Jeder weitere Versuch der bewaffneten Opposition“, replizierte umgehend Dudajews Sprecher, „weiter in Richtung der Hauptstadt Grosny vorzudringen, wird im Blut erstickt werden.“

Die seit Monaten erbittert geführten Auseinandersetzungen zwischen dem Autokraten Dudajew und der hauptsächlich von Intellektuellen und Geschäftsleuten unterstützten Opposition haben das Stadium der Wortgefechte hinter sich gelassen. Am Wochenende eroberten Truppen Dudajews Argun, die Hochburg der Opposition. Aber die triumphale Feier dieses Sieges am Tag der Unabhängigkeit konnte nicht verbergen, daß Dudajews Einfluß auf die Region um die Hauptstadt beschränkt ist. Die Russische Föderation hat nach der Wirtschaftsblockade eine militärische Grenzblockade über die abtrünnige Republik verhängt. Die Milizen der Opposition werden, laufenden Dementis aus Moskau zum Trotz, von der russischen Armee mit Waffen ausgerüstet und trainiert. Rußland, das die Sezession Tschetscheniens nie anerkannt hat, ist jetzt gegenüber Dudajew in die Offensive gegangen. Aber der russische Vorstoß, auch diesen Teil des „Nahen Auslands“ wieder unter seine Kontrolle zu bringen, wird von geschickten diplomatischen Manövern begleitet sein müssen. Noch gibt es keine oppositionelle tschetschenische Gruppierung, die den Beitritt zur Russischen Föderation erwägen würde. Selbst Ruslan Chasbulatow, Tschetschene, ehemaliger Präsident des Obersten Sowjet und auf der Suche nach einer neuen Hausmacht, vermeidet jede Äußerung zu dem brisanten Thema. Im kollektiven Gedächtnis der Tschetschenen ist die Geschichte von nahezu 200 Jahren Unterdrückung und Widerstand zu tief eingebrannt, um Raum für eine kühle Abwägung der Alternativen zu lassen.

Fast ein halbes Jahrhundert hatte die Armee des Zaren benötigt, bis sie in ihrem Eroberungskrieg gegen die Bergvölker des nördlichen Kaukasus 1859 die letzten Stützpunkte der Guerilla ausgehoben und ihre Herrschaft befestigt hatte. Der Name der am Fuß des Gebirges gelegenen Stadt Grosny, zu deutsch „die Schreckliche“, zeugt von der drakonischen Härte, mit der Rußland den Widerstand der Widerstandskämpfer unter der Führung des legendären Imam Schamil brach. Die Gefechte in den unwegsamen Schluchten und Tälern des Kaukasus wurden zum Material für den imperialen russischen Mythos. Und über mehrere Generationen entzündete sich die Phantasie russischer Schulkinder an den Geschichten, in denen die romantische russische Literatur den Widerstand der Bergvölker und seine schließliche Überwindung feierte.

Nach dem Sturz des Zarismus schien eine weitgehend unabhängige Föderation der nordkaukasischen Völker im Rahmen der Sowjetunion in greifbare Nähe gerückt, aber der stalinsche Massenterror gegen die nationalen Eliten machte diesem Traum ein rasches Ende. Im Zweiten Weltkrieg erlagen nicht wenige Angehörige der Nordkaukasus-Nationen Hitlers (niemals ernstgemeinten) Versprechungen. Nach der Wiedereroberung des Kaukasus wurden dann ganze Völker der Region, unter ihnen die Inguschen und Tschetschenen kollektiv als Kollaborateure haftbar gemacht und deportiert. Zunächst heimlich, später mit Zustimmung der sowjetischen Behörden, kehrten beide Völker in ihre Heimat zurück.

Als die Sowjetunion zerbrach, ergriff Dschochar Dudajew, einziger tschetschenischer General der Sowjetarmee, die günstige Gelegenheit, warf sich zum Herrn über die Inguschen und Tschetschenen auf und erklärte die Unabhängigkeit von Rußland. Zuerst gedachte Jelzin, mit den Insurgenten kurzen Prozeß zu machen, aber die demokratische Opposition in Moskau zwang ihn zum Rückzieher. Freilich hatten sich die demokratisch gesinnten Gegner einer bewaffneten Intervention in Dudajew getäuscht. Der fast einmütig gewählte Präsident der Tschetschenen (die Inguschen waren vorsichtshalber vom Unabhängigkeitszug abgesprungen) errichtete binnen weniger Monate eine unumschränkte Herrschaft, mutierte zum gläubigen Sunniten und startete ein rhetorisches Artilleriefeuer gegen Moskau, das selbst vor der Drohung, über Moskau Atomwaffen zu zünden, nicht zurückschreckte.

Mehr als diese für den heimischen Gebrauch bestimmten Kraftmeiereien wurde die russische Regierung durch die außenpolitischen Aktivitäten Dudajews alarmiert. Der Ex-General versuchte, die wiedererstandene Föderation der nordkaukasischen Völker gegen die Moskauer Zentrale aufzuwiegeln und ernannte sich zum Schutzherrn der Abchasen, die gerade dabei waren, sich von Georgien loszureißen. Er verbündete sich mit Swiad Gamsachurdia, dem er nach dessen Surz in Grosny ein vorübergehendes Exil bot, und unterstützte Swiads versuchtes „Comeback“ in Georgien mit Waffen und Freiwilligen.

Als aber die nordkaukasischen Republiken und Gebiete ausnahmslos den neuen russischen Föderationsvertrag unterzeichneten, begann Dudajews Stern zu sinken. Jetzt war es die russische Politik, die die Abchasen gegen Georgien unterstützte und schließlich Eduard Schewardnadse, den Präsidenten der Republik, dazu zwang, in die GUS zurückzukehren. Der russische Alptraum, die Fusion von Konfliktzentren nördlich und südlich des Kaukasus, wurde nicht zur Wirklichkeit.

Wie könnte die russische Führung Tschetschenien zum Eintritt in die Föderation veranlassen, ohne die Gefahr eines Befreiungskrieges gegen den ehemaligen Kolonialherrn heraufzubeschwören? Die Verhandlungen, die zum Beitritt der nach Unabhängigkeit dürstenden tatarischen Republik führten, könnten zum Modellfall werden. Es hat sich gezeigt, daß die russische Zentrale, entsprechenden politischen Druck vorausgesetzt, durchaus in der Lage ist, den Föderationsvertrag flexibel auszulegen und Sonderkonditionen zu gewähren.

Diesen Weg einzuschlagen, wäre für eine Regierung nach dem Sturz Dudajews um so verlockender, als sich die Alternative, eine Union der nordkaukasischen Staaten unter der Flagge der islamischen Erneuerungsbewegung, als Schimäre erwiesen hat. Zudem läßt es die Bevölkerung Tschetscheniens, trotz plakativem Bekenntnis der Führung zu den Gesetzen des Koran, an dem rechten Glaubenseifer fehlen. Und die in unseren Breiten heraufbeschworene Angst vor einem „Heiligen Krieg“ tschetschenischer Terroristen gegen Rußland und den Rest der Welt beruht eher auf einer durchsichtigen innenpolitischen Strategie als auf einer realistischen Lagebeurteilung.

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