: Der Klang wird dem Auge erschlossen
Eurythmie ist Bewegungskunst, die der Anthroposophie entstammt, vom Zuschauer aber weder Vorwissen noch Teilnahme verlangt / Harmonischer Einklang von Sprache, Musik und Gebärden ■ Von Christian Arns
Mit wehenden Schleiern scheinen die Darsteller schwerelos über die Bühne zu schweben. Ohne Mimik, ohne pantomimische Gesten, die vom Zuschauer gedeutet werden müßten, bewegen sie sich zu Texten oder zur Musik: Denn Töne und Laute gilt es in der Eurythmie bildlich darzustellen. „Eurythmie“, das bedeutet: schöner Rhythmus. „Mich hat mal einer gefragt, ob die Zuschauer da mitmeditieren müssen“, berichtet Elisabeth Sgraja vom Eurythmie-Ensemble Berlin und lächelt kopfschüttelnd; schließlich dürfen es sich die Gäste in Sesseln bequem machen – und meditiert wird überhaupt nicht. Denn Eurythmie ist eine Bewegungskunst: Klänge und Laute, Tonhöhen, der Rhythmus oder Worte werden auf der Bühne in Figuren umgesetzt.
Der anthroposophischen Weltanschauung ist dabei vor allem die Überzeugung entnommen, daß jeder Klang ein eigenes Wesen hat, das es herauszuarbeiten und darzustellen gilt, etwa die Härte des T oder die Weichheit des D. Und Eurythmisten sind sich sicher, daß die Laute eines Wortes nicht zufällig einen Begriff kennzeichnen. Die Kombination sei nicht willkürlich. „Der Klang eines Wortes hat eine Bedeutung“, erklärt Gerda Bartscher. Sie bietet in Schulen und einem Kindergarten sowie für erwachsene Laien Eurythmie-Kurse an. Das deutsche Wort Baum etwa habe einen runden umhüllenden Klang, der sich mit den hierzulande gängigen Vorstellungen decke, was ein Baum sei und wie er beschaffen ist. Jedes Wort wird in der Eurythmie als Lautmalerei verstanden; das Bild zeichnen die Darsteller mit ihren Bewegungen. Dadurch entstehen auf der Bühne fließende Figuren, die auch für nichtanthroposophische Zuschauer ohne Vorwissen beeindruckend harmonisch zum Text oder zur Musik passen.
Wenn etwa Christiane Riedesser, Sprachgestalterin beim Eurythmie-Ensemble Berlin, von fliegenden Federn spricht, scheint Frau-Holle-Darstellerin Meike Kluge über die Bühne zu schweben, als werde auch sie wie Federn von der Luft getragen. Und wenn sie sich der Goldmarie vorstellt, „Ich bin die Frau Holle“, zeigen ihre Gebärden zum offenen O im Namen zugleich die Großzügigkeit, mit der sie die benachteiligte Tochter der Witwe aufnimmt.
Daß die Darsteller im Märchen Charaktere verkörpern, ist für Eurythmie ungewöhnlich, erklärt Ensemble-Mitglied Rainer Fedtke. Üblicherweise werde in der Lauteurythmie die Sprache, in der Toneurythmie Musik bildlich dargestellt. Von „sichtbarer Sprache“ und „sichtbarem Gesang“ sprach daher Rudolf Steiner, Begründer der Anthroposophie und der aus ihr resultierenden Eurythmie. Diese teilt sich in den künstlerischen, den pädagogischen und den therapeutischen Bereich. So sind die meisten Eurythmisten in Deutschland nicht an einer Bühne beschäftigt, sondern an einer der rund 150 Waldorfschulen, an denen die Bewegungskunst von der 1. bis zur 12. Klasse Pflichtfach ist. Zum Diplom in Eurythmie führt in Deutschland ein vierjähriges Vollzeit-Studium an einer von acht Schulen. Da diese nicht öffentlich gefördert werden, muß jeder Schulgeld bezahlen. Schulen gibt es auch in anderen europäischen Ländern, in den USA, eine in São Paulo und eine in Südafrika. Weltweit sind nach Schätzung des Goetheanums in Dornach (Schweiz) über 3.000 Eurythmisten tätig.
Bühnen-Ensembles entstehen meistens aus den Kollegien dieser Eurythmie-Schulen, manchmal mit deren Studenten. Anders an Alster und Spree: Die Eurythmie- Bühne Hamburg beschäftigt nach Angaben ihrer Veranstaltungs-Organisatorin Christine Oevermann 18 Eurythmisten, eine Sprecherin und einen Beleuchter. Ein Zubrot müßten sie sich montags und donnerstags verdienen, wenn probenfrei ist. „Die Bühne allein kann sich nicht finanzieren“, so Oevermann.
An diesem Problem zerbrach das alte Eurythmie- Ensemble Berlin: „Sieben Jahre durchgehend zu wenig Geld zu haben, das hält keiner aus“, meint Rainer Fedtke, der als einziger dabeigeblieben ist. Erklärtes Ziel auch der neuen Besetzung sei, „Bühnenkunst als einzigen Beruf zu betreiben“, versichert Ulrike von Mackensen, „aber leider reicht es nicht“. Grund für ausbleibende Zuschaueranstürme ist nach ihrer Ansicht nicht die Eurythmie selbst, sondern ihre Einbettung in die Anthroposophie, die bei vielen einen schlechten Ruf habe. Auch die Ensemble-Mitglieder gehören keineswegs alle der Deutschen Gesellschaft für Anthroposophie an. Dennoch haben alle einen inneren Bezug zur Weltanschauung Rudolf Steiners. In der Gesellschaft laufe „einiges so, daß man sich davon absetzen möchte“, sagt Michael Busch, der selbst Mitglied ist. Die Gesellschaft trage manchmal zum Klischee des Anthroposophen bei, das Gäste auch von Eurythmie- Bühnen fernhalte: „Dazu gehört auf jeden Fall Öko und Wolle“, beschreibt Ulrike von Mackensen lachend das gängige Image: „Der Anthroposoph ist abgeschwebt und zurückgezogen von der bösen, bösen Welt.“
Interesse an den Bühnenaufführungen zeigen vor allem Schüler der Waldorfschulen und ihre Eltern sowie Absolventen. Für die Erwachsenen werden daher auch an fast allen Waldorf-Einrichtungen Laienkurse angeboten. „Dabei werden zunächst verschiedene Schrittfolgen geübt, der Raum erfahren“, beschreibt Gerda Bartscher. Erst nach Grundübungen würden Gedichte oder Musikstücke bildlich dargestellt: „Der Körper wird als Instrument eines Ausdrucks benutzt.“
Allerdings finden die meisten Laienkurse wöchentlich statt. Intensive Schulungen seien selten, kritisiert Rainer Lorenz vom Eurythmie-Forum Kassel. Dort fand daher im Sommer bereits zum zweiten Mal ein sechstägiges Sommer-Seminar statt, an dem vor allem Laien teilnahmen. Auch die Eurythmie-Tage Berlin stießen auf größere Resonanz. Das macht Meike Kluge vom neuformierten Ensemble Mut: „Vielleicht entdecken einige, daß wir eine sehr schöne Bühnenkunst betreiben.“
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