: Ein Ausbruch nach Zurück
■ Thalia: Jürgen Flimm inszenierte Ibsens „Wildente“
Jürgen Flimm hat Andrea Breths und Luc Bondys Ibsen-Inszenierungen gesehen und fühlte sich erinnert. Natürlich hat er auch die von Frank Castorf gesehen, aber nun, wo der stachelige Igel von der Kirchenallee dem samtigen Hasen vom Alstertor vorgemacht hat, wie man im Rennen gegen die sich beschleunigende Bedeutungskrise des Theaters mit Witz und Mut Sieger bleibt, konnte ein kritischer Reflex auf die Arbeit der Partnerbühne des Schauspielhauses nicht Jürgen Flimms Sache sein. Das Gegenprofil muß her, also gab der Thalia-Chef nach zuletzt mehr bunt als tiefsinnigen Arbeiten der Vergangenheit eine Chance und siehe: Mit Präzision und Tugend läßt sich am Thalia erneut Theater spielen.
So findet Flimm im Rückgriff auf die Konventionen der bürgerlichen Regie-Kunst die Nuance wieder und die Vermeidung von Krach und Klamauk resozialisiert die Konzentration auf Geschichte und Charakter. Das ist im Ansatz natürlich bieder (und einige Buh-Rufer störten wohl deshalb den großen Applaus). Aber die Wildente als zeitlose Kritik an selbstsüchtigem und feigem Idealismus, der Gefühle nur als philosophische Größe behandelt und mit dieser Instrumentalisierung die Welt rücksichtslos mit in die eigene Leere hinunterreißt, findet hier dezidiert Gehör.
Daß Flimm mit Hans Christian Rudolph und Ignaz Kirchner zwei der größten deutschsprachigen Theaterschauspieler als Gegenpole einsetzen kann, elektrifiziert die wohlbekannte Geschichte mit dem Strom gespenstischer Komplexität. Rudolph als der großbürgerliche Moralist Gregers Werle, der den ungelösten Konflikt mit seinem Vater ins Idealistische umgebogen an der kleinbürgerlichen Familie Hjalmar Ekdals abreagiert, zerlegt den Wahn des Dogmatikers in seine brennenden Spektralfarben von Adolf Hitler bis zum Oberstudienrat. Und Kirchner rekapituliert das Elend kleinbürgerlichen Stolzes mit einer Akribie und Genauigkeit, die in ihrer verzweifelten Gefangenheit in Kategorien der Ehre und Demut reale Beklemmungen hervorzurufen versteht.
Ibsens Absicht zu zeigen, daß Frauen bei Demütigungen stets die ersten in der Reihe sind, geben sowohl Hildegard Schmahl als ehelichen Hüterin der Ekdalschen Lebenslüge als auch Alexandra Henkel als 14jährige Tochter Hedvig eindrücklich Gestalt. Diese ernsthafte Rückkehr zur psychologischen Milimeterarbeit setzt sich bis in die Nebenrollen durch. Und so kommt es, daß die plastische, strukturelle Rekonstruktion eines Sittenbildes des 19. Jahrhunderts (in einer etwas unstimmig monumentalen Bühne von Erich Wonder) endlich wieder zu einer Auseinandersetzung mit Menschlichem reizt. Doch gewisse Zwillingseigenschaften zum Programm der Berliner Schaubühne können ja vielleicht wirklich nicht schaden.
Till Briegleb
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen