: Wo wurde Varus geschlagen?
Archäologen rekonstruieren eine Landschaft bei Bramsche in Niedersachsen / Marschierten die Legionen des Varus in einen Hinterhalt der Germanen – oder fand hier nur eine von vielen Schlachten statt? ■ Von Heide Platen
Auf dem „Goldacker“ wächst Futtermais. Die Landschaft ist beruhigend unpathetisch, ein bißchen verschlafen dösen die Hügel, Felder und Wälder zwischen Hase und Hunte vor sich hin. Soll dies der Ort sein, an dem die Germanen unter Hermann dem Cherusker die römischen Legionen des Varus besiegten? Der Ort der deutschen Gründungslegende, ausgerechnet bei Bramsche am Rande des Wiehengebirges in Niedersachsen? Über vier Jahre lang haben Professor Wolfgang Schlüter, Leiter des kulturgeschichtlichen Museums in Osnabrück, und sein Team hier in der Kalkrieser-Niewedder Senke nach dem Ort der Varus-Schlacht Anno Domini 9 gesucht, das Gelände vermessen, prospektiert und gegraben. Doch mit Festlegungen bleibt Schlüter zurückhaltend.
Die Stadt Bramsche hingegen wirbt bereits vollmundig: „Bramsche... Wo Hermann der Cherusker siegte: Durch die sensationellen Funde scheint es, daß die Geschichte neu geschrieben werden muß.“ Aus Jux haben junge Leute aus Bramsche schon mal das rund 80 Kilometer entfernt bei Detmold im Teutoburger Wald stehende Hermannsdenkmal vermessen, ob es denn auf den heimischen Venner Berg paßt. Kaum eine Schlacht hat die Phantasie der Deutschen so angeheizt, kaum einer sind solche Mythen geschrieben worden. Über siebenhundert mögliche Fundorte wurden in zweihundert Jahren heiß diskutiert und als einzig wahre verteidigt.
Die Grabungen der ersten Phase auf einem Gelände von mehr als 5.000 Quadratmetern sind abgeschlossen. Rund 550 römische Objekte kamen dabei ans Tageslicht. Die Suche begann 1989, nachdem 1987 ein englischer Hobbyarchäologe nicht nur einen Hort mit 160 Silbermünzen, sondern, wichtiger, auch drei Schleudergeschosse aus Blei gefunden hatte.
Schon der Historiker Theodor Mommsen hatte 1885 vermutet, daß die Varus-Schlacht hier und nirgendwo anders für die Römer verloren ging. Daß die ArchäologInnen kleinteilige Reste von Militärausrüstungen, Lanzenschuhe, Schildeinfassungen, einen Schildbuckel, eine Gesichtsmaske fanden, gab den Vermutungen neue Nahrung. Daß sie nun aber etwas entdeckten, was sie nie vermutet hatten, verdanken sie der geduldigen, rekonstruktiven und interdisziplinären Herangehensweise moderner Archäologie, die nicht nach Schätzen oder Bestätigung historischer Geschichtsbilder gräbt, sondern die Gesamtsituation des Fundgebietes erfassen will. Akribisch wurde versucht, ein Bild von der Landschaft und deren allmählicher Veränderung über zweitausend Jahre hinweg zurück bis in die Römerzeit zu zeichnen.
Dazu bedarf es weniger der Metalldetektoren als, zentimeterweise und Erdschicht für Erdschicht, einer sorgfältigen Grabungsarbeit. Die wissenschaftliche Zeitmaschine analysiert die Erdprofile der Grabungsschnitte schichtweise, nimmt minimale Verfärbungen wahr und weiß sie zu unterscheiden. Sie rekonstruierte, daß Bramsche nicht das Ende der Welt, sondern bereits in der Steinzeit besiedelt war.
Der hölzerne Aussichtsturm auf dem Venner Berg gibt einen strategischen Überblick. Die Kalkrieser-Niewedder Senke zieht sich am Rand des Wiehengebirges sechs Kilometer lang von Ost nach West. Am Abhang des Kalkrieser Berges verengt sie sich wie eine Sanduhr auf 1.000 Meter und grenzt auf der anderen Seite an das Große Moor. Im Süden ist bei schönem Wetter der Teutoburger Wald zu sehen. Die Marschrichtung der Römer hätte von hier aus bis weit ins Land hinein beobachtet werden können.
Ein gewaltiger Erdwall als Hinterhalt der Germanen
Die Landschaft aber hat sich verändert, und die Archäologie hilft nun, zweitausend Jahre zu überbrücken. Der heute sanfte Hügelhang Kalkriese war steiler, zerklüftet von tief eingeschnittenen Bachläufen, die Senke nur am Rand auf einem Flugsandstreifen zu durchqueren. Wasserläufe und Sumpf machten sie unpassierbar, das Große Moor sperrte die schmale Passage im Norden. Auch dort grenzt ein schmaler Sandrücken an das Moor, der als Handels- und Heerstraße genutzt wurde. Seit dem Mittelalter hat die Landwirtschaft die Konturen gemildert, Sümpfe wurden trockengelegt und in Äcker und Wiesen verwandelt. Die größten Veränderungen brachte dieses Jahrhundert: Der Mittellandkanal wurde ausgebaggert und 1938 eröffnet.
Die Bauern waren arm und trieben Plaggenwirtschaft. Sie gruben die Plaggen, Grassoden und Erde, auf den sumpfigen Wiesen und im Wald ab, schütteten sie auf ihren Feldern zum Plaggenesch auf, der untergepflügt wurde und den ursprünglichen Boden nach und nach in meterdicken Schichten bedeckte. Damit verstreuten sie gleichzeitig die Spuren der Vergangenheit weiträumig über das Land. Schlüter weist lakonisch über die Felder: „Das liegt hier alles noch voll.“ Die heutige Kalkrieser-Niewedder Senke ist eine von Menschen gestaltete Kunstlandschaft. Eine noch nicht abgeschlossene, langwierige Pollenanalyse wird Auskunft über die frühere Vegetation geben.
Als die Ausgräber unter dem Plaggenesch auf die Reste eines Erdwalls stießen, wußten sie noch nicht, was sie da entdeckt hatten. Zuerst vermuteten sie, sie hätten die Befestigung eines noch nicht bekannten, ungewohnt nordöstlich der Lippe-Linie gelegenen Römerlagers gefunden, möglicherweise „Aliso“, das als bisher unverortetes Phantom immer wieder durch die Geschichtsbücher geistert. Der Wall, aus Grassoden erbaut, ist bisher auf einer Länge von 200 Metern erkennbar. Er war fünf Meter breit und etwa zwei Meter hoch. An der Unterseite wurde er durch Gräben entwässert, die Krone war stellenweise mit Palisaden und Flechtwerk versehen. Seine Erbauer müssen vorausgeplant haben, denn die Errichtung solcher Anlagen gehe zwar schnell, müsse aber, vermutet Schlüter, „schon einige Wochen oder Monate“ in Anspruch genommen haben. Der Wall umgab, so die überraschende Erkenntnis, keine geschlossene Siedlung, sondern war nach der Rückseite offen und folgte dem Fuß des Hügels. Unter ihm lagen die ersten nicht durch die Landwirtschaft verstreuten Grabungsfunde, vor allem Münzen und Militaria. Hier hatte, bewiesen Art und Häufigkeit der Funde, tatsächlich eine Schlacht stattgefunden. Der Wall war dabei eingestürzt und hatte Soldaten, Zugtiere und Teile des Trosses unter sich begraben und alles, was nicht verrostete, zerfiel oder nach der Schlacht geplündert wurde, bewahrt. Da war, ließ sich gesichert annehmen, eine Armee spornstreichs in einen Hinterhalt marschiert.
Münzen helfen bei der Datierung dieses Kriegsereignisses. Fünf der sechzehn gefundenen Goldmünzen zeigen auf der Vorderseite den Kopf des Augustus, auf der Rückseite seine Enkel Gajus und Lucius und wurden von 2 v. bis 1. n. Chr. in Lyon geprägt. Die „Schlußmünzen“, diejenigen mit dem jüngsten Prägedatum, sind Silberdenare gleichen Typs, die spätestens 4 n. Chr. nicht mehr hergestellt wurden. Außerdem sind viele der Kupfermünzen durch militärische Gegenstempel als Soldatengeld, Geschenke zu besonderen Anlässen, kenntlich, einige tragen das Zeichen des Varus, der 7 n. Chr. sein Amt als Statthalter am Niederrhein angetreten hatte. Keine Münze aber stammt aus den Jahren nach der Schlacht. Dagegen decken sie sich mit den Funden eines Lagers bei Haltern, das im Jahr der Niederlage aufgelöst wurde. Schlüter: „Wenn das nicht immer wieder das Datum (der Varus- Schlacht, die Red.) bestätigen würde, wäre es eigentlich schon langweilig.“
Die Funde insgesamt sind „kleinteilig“. Georgia Franzius präsentiert kleine Schächtelchen mit „hochstehender augustinischer Handwerkskunst“. Zierliche bronzene Gewandfibeln hielten die Kleider der Männer an den Schultern. Zwei Panzerschließen geben den bisher einzigen schriftlichen Hinweis auf die Truppenzugehörigkeit des Legionärs M. Aius zu einer I. Kohorte, also eines Teils der römischen Kerntruppe. Glücksamulette weisen auf Reiterei hin. Daß der Troß mitreiste, lassen Reste von Zuggeschirr und zwei medizinische Geräte vermuten. Schlüter demonstriert an einer römischen Uniform: „Wir haben von allen Teilen etwas gefunden. Eigentlich lauter Krümel.“ Eine Gesichtsmaske, inzwischen zu einiger Berühmheit gelangt, ist der älteste Fund dieser Art. Sie diente vermutlich vor allem zu Repräsentationszwecken.
Nach Bramsche statt zum Hermannsdenkmal
Als sie aus der Erde kam, wäre sie jedem Laien allerdings nur wie ein rostiger Eisenklumpen vorgekommen. Viele der Gegenstände, die in der museumseigenen Werkstatt durchleuchtet und freigelegt werden, sind anfangs solch undefinierbare Bröckchen. Manche werden als Blockbergung mitsamt der sie umgebenden Erde in das Labor geschafft und erst dort bestimmt und präpariert. Holger Becker ist gelernter Goldschmied und legt gerade eine Lanzenspitze frei. Das rötliche Eisen ist korrodiert und „sehr morbide“. Es wird mit Kunstharz gefestigt. Sein Kollege Günter Becker arbeitet an einer Schildfessel.
In einem alten Gutsstall ist das Informationszentrum des Heimatvereins eingerichtet. Bis zu zehn Reisebusse kommen täglich hierher. Das ist, gemessen an den jährlich zwei Millionen Besuchern am Hermannsdenkmal, ein bescheidener Anfang. Zur Eröffnung im Sommer 1993 kamen an zwei regnerischen Tagen 15.000 Gäste. An den Grabungsstellen arbeiten StudentInnen aus aller Welt. Auch die Fachbesucher sind inzwischen international.
Erstaunlich ist, Varus-Schlacht hin oder her, was in besiedelten Gegenden im Lauf der Jahrtausende alles in den Boden gelangt. Schlüter: „Wir haben vom Mittelalter bis zur Neuzeit ganze Knopfsammlungen.“ Dazu kommen Pferdegeschirre, Münzen, Geschosse. Überraschungen bot der Wall in der gerade begonnenen zweiten Grabungsphase. Er folgt an beiden Seiten nicht mehr dem Berghang, sondern zieht eigenwillige Bögen ins Gelände und muß mit Stichgrabungen mühselig wieder aufgespürt werden. Die Archäologen vermuten, daß er dem damaligen Waldrand gefolgt sein könnte. Der im Westen angenommene Bogen legt sich außerdem geradewegs in einen möglichen Fluchtweg der Angegriffenen.
Darüber, welche der Waffen römisch waren, welche den Söldnern gehörten und welche den Germanen zuzurechnen sind, so Georgia Franzius, „wissen wir bisher sehr wenig“. Leichte römische Waffen wurden auch von den Söldnern getragen. Und ob die Funde von diesen oder von den Angreifern stammen, ist nur „schwer bestimmbar“. Könnten sich die Söldner, zumindest teilweise, gegen die römische Kerntruppe gewendet haben? Georgia Franzius möchte „diese These nicht wagen“. Ihre Hoffnung ist es, „größere Stücke zu finden“ oder gar solche, die schriftliche Hinweise geben: „Wir suchen eben nicht nur schöne Gegenstände und wollen keine Spekulationen. Da hilft nur weitergraben und gucken.“
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