: Seele und Balalaika
Von der seltsamen Anhänglichkeit Boris Pasternaks an Stalins Rußland – aus Anlaß der Ausstellung „Boris Pasternak und Deutschland“ ■ Von Boris Schumatsky
Es gibt bekanntlich zwei Arten von Russen, die guten und die bösen. Die bösen sind Imperialisten und Militaristen, sie haben immer die Guten unterdrückt und sie daran gehindert, ihre „anbetungswürdige, heilige Literatur“ (Thomas Mann) zu schreiben. Über die Eigenschaften der guten Russen läßt sich beinahe alles aus der amerikanischen Verfilmung von Boris Pasternaks „Doktor Schiwago“ in Erfahrung bringen. Jeder gute Russe, lernen wir da, wird mit einer Balalaika geboren. Sein ganzes Leben lang trennt er sich dann nicht mehr von diesem buntbemalten dreiseitigen Zupfinstrument. Außerdem ist der gute Russe ein Poet, mag er nun Straßenkehrer, Politiker oder Arzt wie Doktor Schiwago sein. Zusätzlich zur angeborenen Begabung für Volksmusik und Poesie besitzt er noch etwas, was ihn kraß von allen anderen Menschenkindern unterscheidet: die tiefe und geheimnisvolle russische Seele. Auf sie hatten es die bösen Russen, an der Spitze das Ungeheuer Josef Stalin, abgesehen. Sie unterjochten die russische Seele und schufen ein „Reich des Bösen“, wie es ein Experte aus Hollywood nannte, das sie auch über den Westen auszudehnen beabsichtigten.
Nun haben endlich die bösen Russen ihren letzten westlichen Stützpunkt in Berlin geräumt. Am gleichen Tag hielten die guten Russen Einzug: im Haus der Wissenschaft und Kultur der Russischen Föderation wurde die Ausstellung „Boris Pasternak und Deutschland“ eröffnet.
Pasternak repräsentiert für viele Deutsche Rußland – das gute Rußland, versteht sich, das man aus dem beliebten Film kennt. Das Filmplakat mit Omar Sharif und den typisch russischen Kirchenkuppeln im Hintergrund eröffnet die Ausstellung. Aber zwei Räume der Ausstellung dokumentieren den verzweifelten Überlebenskampf, den Pasternak gegen das kommunistische Reich des Bösen auszufechten hatte.
Die Zwiespältigkeit des russischen Wesens – gute, tief empfindende, künstlerisch begabte Menschen, die ein Sklavenreich geschaffen haben – bemerkten bereits die ersten westlichen Reisenden, die Moskovia besuchten. Der französische Marquis de Custine etwa stieß zu Beginn des vorigen Jahrhunderts den Stoßseufzer aus: „Wie hat sich die Menschheit am lieben Gott vergangen? Wofür sind Millionen unserer Mitmenschen zum Leben in Rußland verurteilt?“
Jahrhundertelang setzte man alles dran, das Rätsel Rußland aus Balalaika, Leibeigenschaft, künstlerischem Talent, rätselhafter Seele und Samowar zu erklären. Ohne Erfolg. Während der Perestroika gestand eine deutsche Slawistin, daß sie überhaupt nicht begreifen könne, „warum sich die Russen nicht längst wie Lemminge in ihre Wolga gestürzt haben“.
Vor einer ähnlichen Frage standen die Amerikaner, als sie den Roman von Pasternak verfilmten. Warum wollte Doktor Schiwago sein von Revolution, Bürgerkrieg, Hunger und Terror heimgesuchtes Land nicht verlassen? Seine Frau und später seine Geliebte wandern aus. Er schwebt in Lebensgefahr, doch er läßt eine Ausreisemöglichkeit nach der anderen verstreichen. Schiwago zieht es vor, die Frau und die Geliebte zu verlieren, um das Schicksal seiner Heimat zu teilen. Ein rationales Motiv für diesen Starrsinn konnte der Drehbuchautor bei Pasternak nicht finden, und ihm selbst fiel offenbar auch keines ein. Das verwundert nicht. Auch Boris Pasternak selbst wehrte sich mit Händen und Füßen gegen die Emigration aus der Sowjetunion, selbst als es um sein Leben ging.
Die hysterische Hetze gegen ihn nach der Veröffentlichung seines Romans im Westen fand ihr Ende erst nach dem „freiwilligen“ Verzicht auf den Nobelpreis und einer offiziellen Erklärung der TASS: Der Dichter dürfe die Sowjetunion verlassen und „die Reize des kapitalistischen Paradieses am eigenen Leibe erfahren“. Die prominentesten Schriftsteller, von Camus bis Hemingway, boten ihm ihre Gastfreundschaft an. Doch Pasternak veröffentlichte einen offenen Brief an Chruschtschow, in dem es hieß: „Sehr geehrter Nikita Sergejewitsch, ich wende mich an Sie persönlich, an das ZK der KPdSU und die sowjetische Regierung. Die Ausreise aus meiner Heimat ist für mich mit dem Tod gleichbedeutend, und deswegen bitte ich, diese äußerste Maßnahme in meinem Fall nicht zu ergreifen.“
Was fesselte Pasternak so sehr an Rußland? Es war nicht die Liebe zum „großen russischen Volk“. Das kannte er ziemlich schlecht. Die einfachen Leute in „Doktor Schiwago“ handeln und sprechen genauso künstlich wie die sogenannten „Opernmuschiks“, die Bauern in den pompösen russischen Opern. Es waren auch nicht die Familie und seine Freunde, die ihn zurückhielten. Und es war nicht die Geliebte, die er im Roman als Lara auftreten ließ. Nein, es war die rätselhafte Seele. Die gab's im Westen nämlich nicht.
Der Westen war für Pasternak Deutschland. Er konnte perfekt Deutsch; im Sommersemester 1912 studierte er Philosophie in Marburg. Doch deutsche Philosophie war für den Dichter zu systematisch, zu ordentlich, zu bürgerlich. Eine Alternative schien ihm zeitweilig Rilke. Doch auch Rilkes Spätwerk enttäuschte ihn, es war zu distanziert, zu philosophisch. 1922 dann läßt Pasternak die Möglichkeit verstreichen, Rilke zu treffen.
Anfang der dreißiger Jahre schreibt er: „Die Seele geht vom Westen weg, / Sie hat dort nichts mehr zu suchen“. Sie zieht ins Morgenland, in dem mit der Revolution der Frühling ausgebrochen ist, ins Stalinreich. (Ein Land, nebenbei bemerkt, in dem ein paar Jahre zuvor zehn Millionen Bauern in den Gulag deportiert worden waren.)
Pasternaks Rußlandbild steht in einer jahrhundertealten Tradition der Mystifizierung. Der Autor beschreibt sein eigenes Land, als sei er hier bloß zu Besuch gewesen, als sei er in der Tat einer jener ausländischen Reisenden. Nur: Wo könnte dieser Fremde herkommen? Sicherlich nicht aus Europa, nicht aus dem Westen. Kein seelenloser westlicher Pragmatiker würde ein Land, das sich in Revolutionen, Bürgerkrieg und Terror aufrieb, das schönste der Welt nennen. Für den Autor von „Doktor Schiwago“ jedoch war Kritik nur „kleinliches Gezänk im Vergleich mit dem Geheimnis des Lebens, dem Rätsel des Todes und dem Reiz des Talents“, lies: im Vergleich mit dem Geheimnis der russischen Seele. Pasternak schreibt, als sei er ein Besucher auf dieser Erde, ein Fremder, ein herabgestiegener Engel. Kein Geringerer als Josef Stalin (der sicherlich kein Engel war) hatte dies sehr scharfsinnig bemerkt. „Laßt diesen Narren Gottes in Ruhe“, befahl er seinen Handlangern, als sie Pasternak festnehmen wollten.
Der Dichter und der Tyrann hatten eine nahezu persönliche Beziehung, die Pasternak in mehreren Gedichten anklingen ließ. In der Ausstellung wird der Poet aber zum Opfer stilisiert. Ein in der Prawda veröffentliches Gedicht, in dem Pasternak sich als Stalins Alter ego darstellt, wird nicht mal erwähnt. Stalin freilich erwartete eine direkte orientalische Lobpreisung im Stile der georgischen Dichter. Vergebens. Aber Pasternak ahnte doch, daß er Stalin viel mehr als nur eine Begnadigung zu verdanken hatte: nämlich seine Existenz als Schriftsteller schlechthin. Kurz vor seinem Tod sagte er, hätte Stalin länger gelebt, dann wäre „Doktor Schiwago“ in der Sowjetunion veröffentlicht worden, und die peinliche Geschichte mit dem Nobelpreis wäre nicht passiert.
Der bereits zitierte Rußlandreisende Marquis de Custine bemerkte: „Selbst die russische Luft ist schädlich für die Kunst. Was in anderen Ländern natürlich entsteht und sich natürlich entwickelt, gelingt hier nur im Treibhaus. Russische Kunst wird immer nur eine Orangerieblume bleiben.“ Rußland und später die Sowjetunion waren in der Tat riesengroße Treibhäuser, aus denen nichts außer großartigen Treibhausblumen wie die „heilige russische Literatur“ hervorgehen konnten. Und die Literaten waren sich immer völlig darüber im klaren, daß eine Orangerie im Gegensatz zur freien Wiese einen Gärtner braucht, mag dieser nun Zar oder Erster Sekretär heißen.
Die Slawisten und auch die russischen Philologen umgingen dieses Thema – die Abhängigkeit des Dichters vom Tyrannen, und also Pasternaks von Stalin. Nicht etwa aus falscher Ehrfurcht. Sie wollten ihre Hauptthemen, die geheimnisvolle Seele und die heilige Literatur, nicht diskreditieren.
Die Ausstellung im Haus der Wissenschaft und Kultur wurde vom Brüder-Grimm-Museum in Kassel in Zusammenarbeit mit Slawisten aus Marburg organisiert. Was haben eigentlich all diese Veranstalter beigetragen? Dieselben paar Fotos und Portraits der schreibenden Zeitgenossen kann man auch in der Kneipe „Pasternak“ am Prenzlauer Berg nebenbei besehen. Dort ist das Ambiente auch authentischer: Man findet typisch russische Plüschtapeten und selbst einen Samowar.
Die russische Seele scheint wieder Konjuktur zu haben. Michail Gorbatschow – ohne Zweifel ein guter Russe – setzte sich neulich in Weimar für die „gefährdete russische Kultur“ ein. Er meinte, die demokratische und wirtschaftliche Reform sei von der russischen Kultur abgelehnt worden. Ohne es zu wollen, thematisierte er ein Problem, das von den meisten westlichen Slawisten und den letzten übriggebliebenen Anhängern der geheimnisvollen Seele in Rußland – von Alexander Solschenizyn etwa – völlig verdrängt wird: die Verknüpfung der russischen Kultur mit der Macht.
Zugegeben, die Literaten und die russische Intelligenzija unterstützten die Herrscher nie. Aber sie brauchten die Gewaltherrschaft zur Rechtfertigung der eigenen Existenz. Die Luft der Freiheit ist für den „großen Schriftsteller“ tödlich; Michel Foucault hat diesen Typ beschrieben: „Er trägt allein die Werte aller, er widersetzt sich dem Souverän oder der Ungerechtigkeit der Regierenden und läßt seinen Schrei bis in die Unendlichkeit hinein erklingen.“ Was aber tut er, wenn es keinen Tyrannen mehr gibt? „Seit einigen Jahrzehnten“, sagt Foucault, „erleben wir das Abtreten des ,großen Schriftstellers‘.“
Eine pluralistische Gesellschaft braucht keine „großen Schriftsteller“. Als junger Dichter verglich Pasternak sich mit einem Mammut, das im Russischen nicht für etwas Großes steht, sondern für das historisch Überholte oder Ausgestorbene, wie der Dinosaurier im Deutschen. In der Geschichte der sowjetischen Literatur bleibt Pasternak ein Brontosaurus, riesig, aber unbedenklich und ungefährlich, weil Vegetarier.
Pasternaks Werk war wohl einer der letzten Versuche, den Rußlandmythos zu beleben. Sein Mißlingen verrät das größte Geheimnis Rußlands. Es besteht darin, daß es nie ein Geheimnis Rußlands gab. Dies bestätigt auch das Mißlingen der Pasternak-Ausstellung. Sie wirkt eher wie eine Gedenkstätte oder wie ein sowjetisches „Leninzimmer“ mit den üblichen „Mitteln der anschaulichen Agitation“, Wandzeitungen mit Klassikerzitaten.
Einen literarischen Mythos kann man eben nicht dokumentieren, man kann ihn nur anbeten.
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