: Verlierer von Krieg und Systemwandel
Die Busse und Bahnen verkehren pünktlich, die Läden und Cafés sind voller Menschen – aber Kroatiens Wirtschaft liegt am Boden / Den rigiden Stabilisierungskurs bezahlen die Bürger mit einem sinkendem Lebensstandard ■ Aus Zagreb Erwin Single
Am Sonntag gleicht der Jelašić- Platz einem Bienenhaus. Pärchen, Halbwüchsige, ganze Familien bahnen sich an den Schaufensterkaskaden einen Weg durch das Gewühl. Auf besonders großes Interesse stoßen die Boutiquen mit den neuesten Importprodukten, von der Fertigsalatsauce bis zum vierteiligen Reisegolfset samt Ball und Holzloch. Von der Statue des Generals Josef Jelašić, der einst für Kroatien gegen Ungarn zog und heute seinen Säbel Richtung Belgrad erhebt, nimmt kaum jemand Notiz. Ebensowenig wie von den Rentnerinnen, die fast vor Scham sterben, wenn sie um ein wenig Kleingeld bitten.
Die scheinbare Normalität auf den Promenaden der stolzen Metropole überdeckt die schwere Wirtschaftskrise im Land. In den Cafés der Oberstadt drängen sich elegant gekleidete Gäste, doch der Umsatz ist lausig. „Früher tranken die Leute Mokka, Orangensaft und Schnaps, heute Kaffee und ein Glas Wasser, und morgen werden sie vielleicht nur noch Wasser bestellen“, sagt die Serviererin und zuckt hilflos mit den Achseln. Die junge Verkäuferin im Jeans-Shop nebenan hat noch eine andere Erklärung parat: „Die Leute hier kratzen ihr letztes Geld zusammen, um einigermaßen modern angezogen zu sein, damit niemand merkt, wie schlecht es ihnen geht.“
Seitdem im Juli 1991 der Krieg begann, geht es in Kroatien wirtschaftlich bergab. Heute liegt die Hälfte der Industriekapazitäten brach, mehr als eine halbe Million Menschen haben ihre Arbeitsplätze verloren. Zudem muß die ex-jugoslawische Republik 500.000 Flüchtlinge unterbringen und versorgen. Die Kriegsschäden belaufen sich auf schätzungsweise 20 Milliarden US-Dollar, 13 davon entfallen allein in Wirtschaft und Industrie – mehr als die Wirtschaftkraft eines ganzen Friedensjahres. Das Bruttoinlandsprodukt fiel seit 1991 von 15,1 auf 8,3 Milliarden US-Dollar im vergangenen Jahr – ein Absturz, wie ihn selten ein Land erlebt haben dürfte. Gerade noch 1.000 Dollar beträgt das Nationaleinkommen pro Kopf – Kroatien hat das Niveau eines Dritte-Welt-Landes erreicht. „Zuerst war das Land im Krieg gefangen, jetzt ist es durch seine finanziellen Probleme eingesperrt“, sagt Peter Kessler, der UN-Sprecher in der kroatischen Hauptstadt.
Daß sich so etwas wie wirtschaftlicher Souveränität nicht per Dekret schaffen läßt, mußten die Kroaten schon bald nach ihrer Unabhängigkeitserklärung vor drei Jahren erkennen. Aus Steuereinnahmen und Devisenreserven konnte sich der Staat schon vor dem Krieg nicht finanzieren, also blieb die Notenpresse der einzige Ausweg, den drohenden Staatsbankrott zu vermeiden. Das Ergebnis: Die Preise stiegen um das Zehnfache, die Löhne halbierten sich. Der seit Herbst 1993 eingeschlagene Stabilisierungskurs hat zwar die Inflation praktisch auf Null gedrückt, doch die Preise sind horrend und lassen sich durchaus an westeuropäischem Niveau messen. Eine Markenjeans beispielsweise kostet 390 Kuna, umgerechnet 100 Mark. Für einen Straßenbahnfahrschein muß man inzwischen über eine Mark hinlegen – eine für Kroaten geradezu astronomische Summe. Ebensoviel kostet eine Flasche Bier, der Liter Milch gar 1,50 Mark. Fast jedes Gespräch beginnt inzwischen mit der Frage, was dies oder jenes denn gekostet habe, und wo es etwas günstig zu erstehen gibt.
Aljoša arbeitet als Lehrerin in einer Grundschule. Ihr Mann, ein gelernter Kaufmann, ist seit zwei Jahren arbeitslos. In der kleinen Zweizimmerwohnung am Krešimirov-Platz ist es eng geworden, seit sie die aus Slawonien geflüchtete Großmutter bei sich aufgenommen haben. „300 Mark Lohn für vier Esser, das reicht kaum für das Nötigste“, sagt Aljoša. Sie besuchen keine Diskos, keine Restaurants, nicht einmal für kleine Ausflüge reicht das Geld. Die Sparbücher sind längst geplündert, und Aljoša wüßte nicht weiter, wären da nicht die Verwandten auf dem Land, die sie mit Gemüse und Obst versorgen. Und natürlich die Devisen von ihrem Bruder, der in Ludwigshafen bei der BASF arbeitet. Jährlich 700 Millionen Mark fließen allein aus Deutschland ins Land, hinzu kommen Rentenzahlungen von 140 Millionen Mark. „Lange können wir denen nicht mehr auf der Tasche liegen“, da ist Aljosa sich jedoch sicher, „wenn es Ende des Jahres nicht besser wird, dann gute Nacht!“
Wie es angesichts dessen die Rechengenies der kroatischen Regierung geschafft haben, auf ein Existenzminimum von 172 Mark zu kommen, ist nicht nur Aljoša ein Rätsel. „Das ist so unrealistisch, daß wir nur darüber lachen können“, meint auch Jasna Petrović vom „Bund unabhängiger Gewerkschaften“ (SSSR), der 720.000 Beschäftigte vertritt. Nach Berechungen ihrer Kollegen benötigt eine vierköpfige Familie im Monat 524 Mark, um mit dem Notwendigsten versorgt zu sein. Das durchschnittliche Monatseinkommen liegt der offiziellen Statistik zufolge jedoch nur bei 300 Mark, der gesetzliche Mindestlohn beträgt gerade einmal 62 Mark. Immer wieder kommt es zu wilden Streiks, die jedoch meist nach Kündigungsdrohungen der Fabrikleitungen schnell beendet werden.
Božo Žaja hat einen eindrucksvollen Katalog über die soziale Lage in Kroatien zusammengetragen. Das Fazit des Dozenten für Sozialpolitik an der Universität von Zagreb und Leiter des sozialpolitischen Referats des SSSR: Arbeitslose, Rentner und Vertriebene sind die Verlierer von Krieg und des Systemwandel. Offiziell werden 244.000 Arbeitslose registriert, immerhin 17,8 Prozent. Doch nach Schätzungen von Wirtschaftexperten dürfte ihre Zahl eher bei einer halben Million liegen. Nur die Hälfte bekommt Unterstützung, 66 Prozent haben nicht einmal eine eigene Wohnung. Der ohnehin angespannte Arbeitsmarkt wird durch die Demobilisierung eines Teils der Armee, die lange als Auffangbecken gedient hatte, noch zusätzlich strapaziert. Überall blühen Schwarzmarkt und Subsistenzwirtschaft, Schwarzarbeit, Kriminalität und Prostitution.
Die politische Klasse bleibt, wie immer, von alledem unbeeindruckt. Daß Präsident Franjo Tudjman sein Wahlversprechen, das Land „vom Sieg zum Wohlstand“ zu führen, noch einlösen kann, glaubt längst niemand mehr. Schließlich hat es drei Jahre gedauert, bis die Regierung überhaupt ein Wirtschaftsprogramm verabschiedete. Dabei ist die restriktive Geld-, Fiskal- und Lohnpolitik im Rahmen des Stabilitätsprogramms nur der Not geschuldet, denn das Land stand im Herbst letzten Jahres vor einem ökonomischen und sozialen Zusammenbruch. Den scheinbaren Glanz der neuen Währung, die Ende Mai eingeführt wurde und wie schon zur Zeit der Ustaša-Faschisten (1941 bis 1944) „Kuna“ (Marderfell) heißt, müssen die Bürger bezahlen. „Der Pfeil, der gegen die Inflation abgefeuert wurde“, schreibt die Tageszeitung Slobodna Dalmaijca, „kehrt wie ein Bumerang zurück und trifft das Volk mitten ins Gesicht.“ Die staatlichen Abgaben steigen drastisch, so werden zum Beispiel die Kommunalgebühren in Zabgreb um nicht weniger als 360 Prozent heraufgesetzt.
Daß in der Zwischenzeit die Preise nicht fallen wollen, wie es sich die Regierung wünscht, macht sogar Nikica Valentić rasend. Manche kroatischen Firmen würden sich eben „doof anstellen“ und handeln, als gingen sie die Regierungsentscheidungen nichts an, beschwert sich der allerte Regierungschef. Die Unternehmen jedoch haben ganz andere Probleme: Die kroatische Industrie war vor dem Krieg deutlich weniger export- und westorientiert wie etwa die slowenische – umso größer sind die Umstellungsschwierigkeiten. So hat der Schiffbau, mit rund 18.000 Beschäftigten einer der wichtigsten Wirtschaftszweige, den Großteil seiner Kundschaft verloren und riesige Schuldenberge angehäuft. Er gilt heute als Problembranche. Aber auch durchaus passable Unternehmen wie Rade Končar, das sich von einer lokalen Brauerei zum Stolz der kroatischen Wirtschaft entwickelt hatte, sind durch den Krieg hoffnungslos ins Hintertreffen geraten. Von 23.000 Beschäftigten sind 8.500 übriggeblieben.
Da der kroatische Binnenmarkt für die meisten Betriebe uninteressant ist, versuchen sie, möglichst viel zu exportieren, um so an die lebenswichtigen Devisen zu kommen. Die Politik der Geldverknappung treibt derweil seltsame Blüten. Da die strukturellen Ursachen der Inflation, etwa die Etatisierung der mit Millionenverlusten arbeitenden Staatskonzerne, an erster Stelle die nationale Elektrizitätsgesellschaft, die Eisenbahn und die Werft- und Schwerindustrie, bislang unangetatstet blieben, gibt es einen „Inflationsstau“. Die Kuna, so schätzen die Experten, sei bis zu 40 Prozent überbewertet.
„Der Preis, den wir für den einseitigen Stabilitätskurs bezahlen, ist hoch“, sagt Mato Crkvenac, einer der wichtigsten Wirtschaftsprofessoren im Land und Leiter des unabhängigen Forschungsinstituts „City Trust“. „Wir sind nicht in der Lage, industrielle Produktion und wirtschaftliche Aktivitäten anzukurbeln.“ Die Zahlen geben ihm Recht: Die Industrieproduktion brach im ersten Halbjahr noch einmal um acht Prozent ein, die Exporte sanken im Vergleich zum Vorjahr sogar um ein Fünftel. Ohne Wirtschaftswachstum, das weiß nicht nur Crkvenac, ist die Hoffnung auf einen steigenden Lebensstandard auf lange Zeit dahin. Und wo die Ökonomie stehenbleibt, wächst bekanntlich meist die Produktion von Dummheit, Haß und Wahnsinn.
Wenn man dagegen Regierungschef Valentić reden hört, ist Kroatien auf dem besten Wege. „Wir haben sie Spitze der Krise überwunden“, verkündet er stolz und lobt die kleine Republik als „eines der stabilsten Länder Osteuropas“. Gegenreden liebt der frühere Manager des staatlichen Ölkonzerns INA nicht. Die Frage eines kroatischen Rundfunkreporters nach den Lohnstopps wird sofort unter den Tisch gekehrt – das interessiere die versammelten ausländischen Journalisten nicht.
Wie verdreht die ökonomischen Entscheidungen in Kroatien manchmal fallen, zeigt ein Beschluß des Obersten Verteidigungsrates Ende Juli: Die Absichtserklärung mit dem Internationalen Währungsfonds über Finanzhilfen wurde nicht etwa von kompetenten Wirtschaftsgremien, sondern von dem Gremium mit Präsident Tudjman an der Spitze besiegelt. Der diktiert, was in seiner alleinregierenden „Kroatischen Demokratischen Gemeinschaft“ (HDZ) passiert, und alleine diese Partei bestimmt, was im Staat geschieht. Das zeigt auch, daß es der Regierung am liebsten wäre, wenn sie die gesamte Wirtschaft wie zu kommunistischen Zeiten mit Verordnungen und Bestimmungen dirigieren könnte.
Der Kurs aber ist unklar. „Während der gemäßigte HDZ-Flügel sich für mehr Marktwirtschaft durch Privatisierung und Liberalisierung stark macht, wirbt der rechte Flügel für den nationalistischen Weg und will die Betriebe unter staatlicher Kontrolle halten“, sagt Lino Veljak von der oppositionellen „Sozialdemokratischen Union“ (SDU). Da wird zwar groß über Privatisierung geredet, aber es fehlen der Wille und die kompetenten Leute. Noch immer kontrolliert der Staat zwei Drittel der Wirtschaft, nur 15 Prozent macht der Privatsektor am Bruttoinlandsprodukt aus. Das ist weniger als in allen anderen osteuropäischen Staaten. Im Frühsommer dieses Jahres hatten gerade einmal 2.700 der 3.619 Betriebe ihre Umwandlung in Aktiengesellschaften gestartet, höchstens 10 Prozent waren zu diesem Zeitpunkt privatisiert. Die Liste der ausländischen Investoren beim „Kroatischen Privatisierungsfonds“ (CPF), der Zagreber Variante der deutschen Treuhand, ist kurz, wie Damir Ostović mitteilt. Kein Wunder, denn Ausländer können weder Aktienmehrheiten noch Eigentum erwerben. Drei Brauereien, eine Schweizer Zementfabrik sowie die Partnerschaft zwischen dem schwedischen Elektromulti Ericsson und dem Telekommunikationsausrüster „Nikola Tesla“ – das ist schon beinahe alles.
Zagrebs erste Adresse, das elegante Hotel Esplanade, gähnt vor Leere. Wer von den Geschäftsleuten fährt schon nach Kroatien? So stehen die Serviererinnen gelangweilt im Speisesaal herum. Derweil läuft der Selbstausverkauf des Staates an die politische Klasse auf Hochtouren. Die orginellste Erfindung sind die „Managerdarlehnen“, mit denen die Banken den leitenden Angestellten den Erwerb ihrer Betriebe ermöglichen. Kein Tag vergeht, ohne daß nicht neue Fälle von Patronage oder ungerechtfertigter Privilegien für die alte Nomenklatura aufgedeckt werden. Doch während Tudjman und seine Regierungsmitglieder im Zagreber Dom das Vaterunser aufsagen, wird Kritik an der ungesunden Machtfülle und den gefährlichen Ansätzen von Nepotismus laut. Denn die wirtschaftliche Zukunft des Landes, da sind sich die Ökonomen weitgehend einig, hängt entscheidend davon ab, inwieweit sich der Demokratisierungsprozeß vertiefen läßt. Nicht nur die Gewerkschafterin Petrović ist überzeugt, daß da der übersteigerte Nationalismus nicht ins Bild paßt. Auch Crkvenac schließt sich, wenn auch etwas salomonisch, dem Befund an: „Stabilität und Zukunft des Landes hängen in erster Linie von der Bewältigung der politischen Krise ab.“ Dann eilt er zu seinen Studenten, die fleißig Marktwirtschaft studieren, um später einmal das Geld zu machen. Geld, das sie heute nicht haben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen