Wo Leintücher Luxus sind

■ Hunderte von Menschen in Albanien an Cholera erkrankt

Wien (taz) – Eine in der vergangenen Woche in Albanien ausgebrochene Choleraepidemie hat bisher sieben Todesopfer gefordert. Etwa dreihundert weitere Menschen sollen sich mit der Durchfallkrankheit angesteckt haben. Die Weltgesundheitsorganisation WHO in Genf sieht jedoch noch keinen Anlaß zur Beunruhigung und schickte lediglich ein Ärzteteam und einige Pakete mit Antibiotika in die albanische Hauptstadt Tirana – obwohl Cholera in diesem Ausmaß seit Ende des Zweiten Weltkrieges in Zentraleuropa nicht mehr aufgetreten ist.

In Tirana fürchtet man, daß die Seuche sich schnell weiter ausbreiten könnte. Daher wurden die Schulsommerferien landesweit verlängert, Radio und Fernsehen rufen die Bevölkerung dazu auf, nur noch abgekochtes Wasser zu trinken. Die örtlichen Gesundheitsbehörden sollen alle Trinkwasserquellen nach Erregern untersuchen.

Dies ist jedoch leichter gesagt als getan. Etwa zwei Drittel aller Gesundheitseinrichtungen sind unbrauchbar, da nur ein Teil der Krankenhäuser auch nur über eine funktionsfähige Erste-Hilfe-Ausrüstung verfügt. Medizinische Hilfssendungen aus dem Ausland werden von korrupten Beamten zurückgehalten oder von kriminellen Banden entwendet, auf dem Schwarzmarkt tauchen sie dann zu extrem überhöhten Preisen wieder auf. Im ärmsten Land Europas sind selbst Verbandsmaterial und Leintücher rare Waren, Medikamente wie Aspirin nirgends zu haben.

Die ersten Erkrankungen sind nach Ansicht des Gesundheitsministers auf Wasserrohrbrüche in den Städten Berat und Kuçovä zurückzuführen. Dadurch seien Abwässer ins örtliche Trinkwassernetz geflossen. Keine Erklärung hat er dagegen für Meldungen über Cholerafälle in anderen Landesteilen. Regierungskritische Tageszeitungen hatten berichtet, daß inzwischen „Kinder und Alte ebenso wie Bergbauern und Werftarbeiter“ an der Seuche erkrankt seien.

Die Anrainerstaaten Griechenland, Jugoslawien, Mazedonien und Italien reagieren panisch. Die Grenzen wurden teilweise für den Personenverkehr geschlossen. Entlang der südlichen Adriaküste sucht die italienische Marine verstärkt die Hoheitsgewässer nach albanischen Arbeitsmigranten ab. In Griechenland fordern nationalistische Politiker eine medizinische Zwangsuntersuchung der etwa 300.000 albanischen Wanderarbeiter. Karl Gersuny