: Vergessen und vergessen
■ Die Annex Dance Company mit "Rough Edges" beim Tanzfestival im Theater am Halleschen Ufer
„Interception“ hieß das letzte Stück des Choreographen Kurt Koegel, und es war ziemlich langweilig. Annex Dance hieß seine Company und heißt so immer noch, doch Kurt Koegel ist das einzige ständige Mitglied. Für seine neueste Produktion „Rough Edges“, am Mittwoch im Theater am Halleschen Ufer uraufgeführt, hat er drei Kumpels aus seiner New Yorker Zeit um sich versammelt. Nicht nur die Besetzung und das Thema sind gänzlich anders, sondern auch die Qualität. Alle vier sind hochkarätige Tänzer, die bei so illustren Kompanien wie der von Merce Cunningham, Trisha Brown und anderen getanzt haben. Mit „Rough Edges“ umkreisen sie gemeinsam die Möglichkeiten und Abgründe des Erinnerns.
Erinnern, so heißt es im Programmheft, ist gar nicht möglich. Durch die Erinnerung werden in Wahrheit nur fiktive Modelle von etwas Gewesenem geschaffen – das einzige, woran man sich tatsächlich erinnern kann, ist, daß man etwas vergessen hat. Aber vielleicht soll man nicht alles glauben, was in Programmheften steht. Im Tanz, wo es keine gesprochenen Worte gibt, die sich mit den schriftlichen messen müssen, schon gar nicht. Vielleicht ist der Zusammenhang von Erinnern und Vergessen in Wahrheit der: Erst Selbstvergessenheit macht tatsächliches Erinnern möglich. Je stärker das eine, desto intensiver das andere. So zumindest drängt es sich beim Zusehen von „Rough Edges“ auf.
Die vier Männer, alle in Contact Improvisation und ähnlichen Techniken geschult, scheinen gar keine direkte Berührung zu brauchen: Auf unsichtbare Weise scheint die Bewegung eines Tänzers die der anderen in Gang zu bringen. Eine Beziehung, die sich unaufhörlich fortsetzt und sich permanent im Ungefähren, im Nebel verläuft. Unterbrochen wird der Bewegungsfluß von kurzen Momenten des Innehaltens, in denen man versucht, sich zu besinnen, ohne recht zu wissen, auf was. So plätschern die Zeit und der Tanz auf der Oberfläche dahin, der Abend dehnt sich, und man langweilt sich ein wenig. Doch unmerklich nimmt die Konzentration zu, die Musik wird leiser und die Bewegungen weniger heftig. Der Tanz wird stumm und absonderlich. Mit weichen Handbewegungen verständigen sich zwei Männer, um im Moment völliger Entspanntheit plötzlich zuzuschlagen. Scharf, schnell und genau. Ein Mann zeigt seinen Körper nackt, und obwohl er genau das anzukündigen scheint, zeigt er ihn nie „ganz“: Seine Vorderfront und sein Genital bleiben dem Auge verborgen. Der Tanz wird leichter und heiterer, die Szenen immer abstruser, und man wäre möglicherweise begeistert, wenn nicht das Schlußbild so selbstverliebte und in die Länge gezogene Fröhlichkeit inszenieren würde. Eine etwas merkwürdige Happiness-Botschaft, die da, wo sie subtil den Tanz gestaltet, begeistern kann, doch in der offenen Zurschaustellung wie ein „Es geht uns allen gut“-Workshop mit vielen, vielen guten vibrations wirkt.
„Rough Edges“ ist der Auftakt für „Tanzszenen Berlin“, mit denen das Theater am Halleschen Ufer bis Ende Oktober insgesamt neun Tanzgruppen aus dieser unserer Stadt präsentiert. Michaela Schlagenwerth
Am 30.9. und 1.10. um 20 Uhr, Theater am Halleschen Ufer.
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