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Neffe auf Schnitzeljagd

■ Ein erstklassiger B-Roman: "Der Flügel" von Klaus Modick

„Homebirds“ nennen Literaturkritiker einen Schriftstellertypus, der in der jüngeren deutschen Literatur keineswegs vom Aussterben bedroht ist. Nach dem Abitur und einem geisteswissenschaftlichen Studium, meint der ironische Begriff, verdingt sich der angehende Autor in irgendwelchen Medienjobs und debütiert schließlich mit einer vielleicht sogar beachteten Prosa, die ihm das Leben diktiert hat. Fortan jedoch erzählt er fast ausschließlich von den Nachmittagen eines Schriftstellers und seinen Schwierigkeiten, etwas zu Papier zu bringen. Junge Autoren widmen sich so schon frühzeitig ihrem Alterswerk. Was entsteht, ist meist zähe Literaturliteratur.

Claus Haresch, Protagonist des neuen Modick-Romans „Der Flügel“, ist so ein Schriftsteller. Durch den Brief einer amerikanischen Journalistin wird er jedoch in eine geheimnisvolle Geschichte verstrickt: seine eigene, oder besser, die seiner Familie. Er stößt auf die Spur seines vor seiner Geburt verstorbenen Onkels, der nach dem Krieg in Schiebergeschäfte verwickelt war und via Fremdenlegion für Frankreich in den Indochinakrieg zieht.

Welcher Zusammenhang besteht zwischen Onkel Heinrich und dem Leben der Lea Grünberg, die 1938 aus Deutschland fliehen mußte? Welche Rolle spielt das Wort oder der Gegenstand Flügel? Bruchstückhaft kommt eine verschwiegene Episode aus verdrängter Zeit zum Vorschein. Wie schon in seinem voluminösen Roman „Das Grau der Karolinen“ bedient sich Modick auch hier eines kriminalistischen Puzzlespiels zur Gestaltung des erzählerischen Plots. Es geht nicht nur um die geschichtspädagogisch wertvolle Erkenntnis, daß es eine Gnade der späten Geburt nicht geben kann. Modick entführt in die oldenburgische Provinz der Jahre zwischen 1933 und 1951. Wie die Lebensgeschichten der Menschen sind auch die historischen Großereignisse miteinander verknüpft. Der Krieg als Zeit der Entscheidung, in der nicht nur Lebenswege, sondern auch Einstellungen eruptiv verändert werden. Durch die Flucht der Kaufmannsfamilie Grünberg wird die junge Liebe zwischen Tochter Lea und Heinrich jäh abgebrochen. Heinrich Haresch gerät in Opposition zu den lokalen Nazi- Größen, die noch nach Kriegsende für sein Abtauchen in die Fremdenlegion verantwortlich sind. Im Indochinakrieg, der später als Vietnamkrieg die Welt über Jahre in Atem hält, wird auch Haresch zum „Herrenmenschen“, dem ein einzelnes Leben nicht viel zählt. Die Spurensuche des Neffen, selbstredend das alter ego des Autors Modick, wird zu einer spannenden Schnitzeljagd in die Vergangenheit, in der der Indochinakrieg kaum ferner erscheint als das Oldenburg der Nachkriegsjahre. Wird der homebird zum Jäger und Sammler des Erlebten, füllen sich die langweiligen Schriftstellernachmittage mit prallem Leben. Die originell konstruierte und spannend erzählte Geschichte freilich ist, wie alle vorangegangenen Modick-Romane, Literaturliteratur von der ersten Seite an. „Vom Stellen der Schrift“ ist der Titel seines Essaybandes, „Der Schatten, den die Hand wirft“, heißt ein Bändchen mit eher mäßiger Lyrik. In allen Modick-Romanen – „Der Flügel“ ist bereits sein siebter – sind die Helden Schriftsteller oder Menschen artverwandter Berufe, die immer auch über die Bedingungen ihres ambitionierten Kunstschaffens reflektieren. Die seminarhafte Frage „Wie schreiben?“ verquickt Modick mal ernst, mal slapstickhaft mit dem Erzählstoff. In der Vervielfältigung der Erzählebenen schafft der Autor sich den Raum zur Selbstdistanzierung. Modick gibt sich dabei meist als Gelegenheitssammler aus, der Fundstücke zu ordnen hat.

Die Geschichte des Onkels und das Geheimnis des Flügels ist eine Komposition aus verschiedenen Textsorten. Briefe, Tagebuchaufzeichnungen und verschwommene Erinnerungen von Familienmitgliedern sowie Legionärskameraden Heinrich Hareschs fügen sich zu einem Gesamtbild, das durch überraschende Wendungen mehrfach übermalt wird.

Klaus Modick gestaltet die Spuren, die zum unterschlagenen Familienleben führen, in unterschiedlicher Intensität. Manch ein Gespräch wirkt klischeehaft, bisweilen hört man den Autor zu deutlich aus seinen Figuren sprechen. Für die Fans unter seinen Lesern gibt's eine Reihe von Selbstzitaten. Das freilich ist der Einwand des Kritikers, denn von der ersten Seite an ist „Der Flügel“ ein fesselndes Buch, das man in einem Zug liest. In fast allen seiner Romane hat Modick den in der deutschen Literatur unter Verdacht stehenden Spagat zwischen Unterhaltung und „echter“ Literatur versucht. Mit „Der Flügel“ ist ihm das am besten gelungen. Klaus Modick hat, und das ist ganz und gar nicht abwertend gemeint, einen erstklassigen B-Roman geschrieben, vergleichbar mit einem gelungenen B-Picture des amerikanischen Genrekinos. Vielleicht stände es der deutschen Literaturszene gut zu Gesicht, sich über solch eine Kategorisierung zu verständigen. Harry Nutt

Klaus Modick: „Der Flügel“. Roman. Schöffling & Co., 334 Seiten, 39,80 DM

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