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Gespräche von Ich zu Ich

Multiple Persönlichkeiten haben viele Identitäten, die sich nicht kennen. Auslöser sind Gewalt- oder Mißbrauchserfahrungen in der Kindheit  ■ Von Margarete Wohlan

Das dreijährige Mädchen hört die Wohnungstür leise auf- und zuschnappen. Fünf Schritte bis zum Kinderzimmer, sie hat sie oft gezählt. Ihr Vater ist früher aus der Arbeit zurück, nicht zum ersten Mal. Er kommt rein, ihr wird unbehaglich. Breitbeinig steht er vor ihr, die Hand in der geöffneten Hose. Und dann passiert es: Sie geht weg, einfach raus aus ihrem Kopf. Die „anderen“ kommen und übernehmen.

Die „anderen“ – das sind die vielen abgespaltenen Seiten ihrer Identität, die vielen Persönlichkeiten, die neben der „Hauptperson“ in ihrem Körper existieren. Sie entstanden immer dann, wenn Schmerz und Entsetzen das Kind zu überwältigen drohten. Die einen waren unempfindlich für Schmerz, die anderen ließen sich sexuell mißbrauchen, indem sie Sex wie Roboter über sich ergehen ließen, wieder andere übernahmen Beschützerfunktionen – sie halfen im Kampf gegen Schuldgefühle, Selbstzerstörungswünsche, Wut und Trauer.

Das dreijährige Mädchen ist mittlerweile eine 30jährige Frau, aber die Erfahrungen von damals existieren noch immer – in mehreren abgespaltenen Teilen ihrer Selbst. Sie sind jung oder alt, weiblich oder männlich, haben eigene Stimmen, Verhaltensweisen, Vorlieben und Abneigungen. Zuerst hatte sie keine Worte für das, worunter sie litt: Sie fand in ihrer Wohnung Kleider und Bücher, an deren Kauf sie sich nicht erinnern konnte; oder es riefen sie Leute an, die sie nicht kannte; oder ihre Wohnung war von einem auf den anderen Tag umgeräumt, ohne daß sie wußte, wie. Sie versuchte es zu verheimlichen, lernte, sich zu verstellen. Das Schlimme war nur: Sie hatte keine Kontrolle darüber, wann die anderen kamen. Ein kleiner Reiz aus der Umgebung, der während der Traumatisierung eine Rolle spielte, konnte die Persönlichkeitswechsel auslösen – eine offene Männerhose, leise Schritte im Nebenraum, aber auch Signale von Streß oder Bedrohung – und ihre abgespaltenen Teilidentitäten übernahmen die Regie. Für diese Zeitabschnitte fehlte ihr hinterher jede Erinnerung. Als diese Phasen immer häufiger wurden, ging sie zu Psychotherapien – eine ganze Odyssee verschiedener Diagnosen liegt hinter ihr, denen sich falsche Behandlungen anschlossen, die ihr nicht weiterhalfen.

Erst bei der letzten Therapie hatte sie das Gefühl, verstanden und nicht als verrückt abgestempelt zu werden. Der Befund: multiple Persönlichkeitsstörung (MPS) – eine Diagnose, die in Deutschland noch relativ neu, aber nicht unbekannt ist. „MPS ist eine psychische Aufspaltung in viele innere Personen, die einander oft gar nicht kennen“, erklärt die Diplom- Psychologin Michaela Huber, die seit Jahren mit MPS-PatientInnen arbeitet. „Diese Lösung ist für das Kind lebensrettend, denn es entflieht der Gewalt, indem es sie von einer anderen Persönlichkeit erleiden läßt.“ Je größer das Ausmaß an Gewalt und je länger diese andauert, desto mehr Anteile entwickeln sich, die die Gewalt ertragen helfen. Michaela Huber, die mit ihrer Kollegin Anne Jürgens eine psychotherapeutische Praxis in Bielefeld führt, gehört zu einer kleinen Gruppe von PsychotherapeutInnen in Deutschland, die MPS-Diagnosen erstellen. Von vielen Psychiatern und Psychotherapeuten werden diese jedoch als „Modediagnose“ (Prof. Dr. Klaus Dörner, Klinikum für Psychiatrie und Neurologie in Gütersloh) abqualifiziert oder als „unpräziser Befund“ (Dr. Niels Pörksen, Leiter der Psychiatrie der von Bodelschwinghschen Anstalten in Bielefeld) gar nicht ernst genommen.

Nicht so in den Staaten. Dort wird MPS von Neurologen, Psychiatern und Psychotherapeuten seit 15 Jahren als dissoziative Störung anerkannt. Auch führende Fachzeitschriften wie das American Journal of Psychiatry oder das Journal of Nervous and Mental Disease veröffentlichen in fast jeder Ausgabe Artikel über MPS. Die Erklärung ergibt sich aus der amerikanischen Geschichte: Soldaten aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg sowie aus Vietnam waren die ersten, an denen die starke seelische Erschütterung diagnostiziert wurde. Kriegserlebenisse, Erfahrungen in Konzentrationslagern oder massive, jahrelange körperliche Mißhandlung in der Kindheit, meistens gekoppelt mit sexuellem Mißbrauch, sind häufigste Ursachen für eine „multiple Persönlichkeitsstörung“. Ein Prozent der Bevölkerung, so die offizielle Forschungshypothese in den USA, sei an MPS erkrankt.

Der Internist und Psychotherapeut Arne Hofmann an der psychosomatischen Klinik „Hohe Mark“ in Oberursel therapiert seit Jahren MPS-Patienten: „Es gibt psychische und physische Anzeichen, die MPS erkennen lassen. Und wenn sich Kollegen dagegen sperren, Patienten auf eine mögliche multiple Persönlichkeitsstörung hin zu untersuchen, dann kann es zu Fehldiagnosen und zur falschen Therapie kommen, schlimmstenfalls zur Unterbringung in der Psychiatrie und der ausschließlichen Behandlung mit Psychopharmaka.“

Studien der renommierten US- Psychiater Frank Putnam und Colin Ross belegen: 5 bis 15 Prozent aller PsychiatriepatientInnen und rund 40 Prozent der als schizophren eingestuften PatientInnen haben MPS. Der Unterschied zwischen Schizophrenie und MPS besteht vor allem darin, daß MPS auch physiologische Prognosekriterien erfüllt. Studien in den USA ergaben, daß die verschiedenen Persönlichkeiten signifikante Unterschiede im Muster der Hirnströme, der Herzfrequenz und Blutwerte und der Stimmlage haben. Allergien können von Persönlichkeit zu Persönlichkeit verschwinden. Trotz dieser Spaltung ist es für MPS-Kranke möglich, das „normale“ Alltagsleben zu bewältigen, vorausgesetzt, Diagnose und Behandlung stimmen. „Natürlich ist das Therapieziel, Integration zu einer Gesamtpersönlichkeit“, erklärt Anne Jürgens, „das ist aber zunächst nicht Ziel der multiplen Person, weil viele Anteile Angst haben, sie müßten dann verschwinden.“ Deshalb wird mit Hilfe von Traumatherapie und Hypnose versucht, eine Kobewußtheit herzustellen: Die verschiedenen abgespaltenen Teile lernen sich in den Therapiesitzungen kennen und versuchen im Alltag miteinander zu kooperieren und sich gegenseitig über Geschehnisse zu informieren. Das heißt, MPS-Kranke können lernen, mit der Vielheit in ihnen zurechtzukommen.

Ende Oktober erscheint im Fischer- Taschenbuchverlag ein Handbuch zu MPS. Michaela Huber: Multiple Persönlichkeiten – Überlebende extremer Gewalt

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