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Auf dem Pflaster tobt der Kampf

Der Effenberg-Finger gehört eher noch zu den zivilisierten Ausdrucksformen im modernen Straßenverkehr, immer öfter werden Meinungsverschiedenheiten um Vorfahrtsregeln und Parkplatz gewaltsam ausgetragen  ■ Von Vera Gaserow

Nie zuvor im Leben waren sie sich begegnet, die Radfahrerin und der Opelfahrer. Dann reichten vier Worte für die Ladung zum Duell: „Paß auf, du Idiot!“ Die Radlerin hatte gerade noch ausweichen können, als der junge Mann hinter dem Steuer sie beim abrupten Abbiegen fast auf die Motorhaube gehievt hätte. „Idiot?“ Hatte er den Zuruf richtig verstanden? Also mit quietschenden Reifen hinter ihr her gesetzt. Die Ehre steht auf dem Spiel, die Macht des Mächtigeren ohnehin. Nach einigen hundert Metern rettet zum Glück eine dunkle Hofeinfahrt die Radfahrerin vor dem PS-starken Verfolger.

Schon drei Ampeln lang trödelte der Fahrer des blauen Golf vor sich hin. Verschlief die Grünphase, wechselte die Spur. Da platzte seinem Hintermann der Kragen. Willi K., von Beruf Straßenbahnfahrer, zog einen Revolver und zielte auf die Reifen des blauen Gefährts. Monate später vor den Kadi gestellt, kann Willi K. immer noch nicht erklären, wie das so alles kam: „Ich hab' mich eben geärgert über den.“

Verbale Attacken, Kinnhaken, Schläge; das Messer griffbereit, die Pistole unterm Fahrersitz; die Autos hochgerüstet zu Panzern, die Kinder für den Schulweg gewappnet wie zum Transit durch Feindesland, die Radfahrer behelmt wie Soldaten zur Schlacht – öffentliches Straßenland ist vermintes Terrain geworden. Innerhalb von Sekunden kann der Krieg ausbrechen – wie überall fast ausschließlich von Männern geführt: jeder gegen jeden, alle gegen alle, aber streng nach der Hackordnung der Waffengattungen: Autofahrer gegen Autofahrer, beide gegen Radfahrer, alle drei gegen Fußgänger. Wo in den häuslichen vier Wänden noch Wortwechsel den Konflikt ankündigen, in jeder Eckkneipe erst Drohgebärden die Gefahr signalisieren, herrscht im Straßenverkehr gleich Eskalationsstufe 10. UNO-Unterhändler hätten in diesem Bürgerkrieg keine Chance. Ein Wort, eine Geste – schon knallt's. „Beleidigungen unter Verkehrsteilnehmern“, winkt der Berliner Polizeioberrat Wolfgang Klang ab, „die interessieren uns schon lange nicht mehr.“ Sich den Vogel zeigen oder den Stinkefinger, das gehört fast schon zum normalen Umgangston. Wären alle Autofahrer auch Fußballnationalspieler, die Mehrheit hätte ohnedies längst die rote Karte. Die Straßen wären ein Radler- und Fußgängerparadies. Mit solchen „Lappalien“ wie einem „Effenberg-Finger“ gibt sich auch Verkehrsrichter Wolfgang Vath kaum noch ab: „Schießen, würgen, schlagen“, berichtet Vath, „das ist alles nichts Besonderes mehr.“ Seit 25 Jahren ist der Berliner Richter im Amt. Alle Jubeljahre hatte er früher Delinquenten auf der Anklagebank, die sich im Straßenverkehr den Krieg erklärten. Heute hat er fast jede Woche einen Fall: Autofahrer, die sich wegen der einzigen Parklücke mit Fäusten oder Waffen duellieren, Radfahrer, die aus Wut über den zugeparkten Radweg wie Rumpelstilzchen auf Motorhauben stampfen, Lkw-Fahrer, die den Hintermann an der Ampel gnadenlos ausbremsen und gefährden, Raser, für die schon der Hinweis auf das Tempo-30-Schild schon Anlaß zum Aussteigen und Draufschlagen ist. „Im Straßenverkehr eskaliert harmloser Streit in Sekundenschnelle zu tödlichem Ernst“, meldete dpa kürzlich, „drei junge Männer stehen derzeit wegen Totschlags vor Gericht. Blind vor Wut darüber, daß ihr Vordermann vorschriftsmäßig Tempo 30 fuhr, ging einer der jungen Männer mit Knüppel und Messer auf den Langsamfahrer los und erstach ihn im Streit.“ Auch wenn es bisher keine wissenschaftlichen Untersuchungen und Statistiken gibt, die Experten sind sich einig: so schlimm wie jetzt war es noch nie. „Vor allem seit der Maueröffnung“, beobachtet Verkehrsrichter Vath, „ist die Gewalt im Straßenverkehr mächtig angestiegen. Selbst friedliche Leute explodieren sofort und denken schon in der kleinsten Situation an Revanche.“

Doch nicht nur motorisierte Verkehrsteilnehmer sinnen auf Rache für Fehlverhalten oder Rücksichtslosigkeit. Immer lauter wird die Kriegserklärung von Radfahrern und Fußgängern gegen die „autorisierte“ Übermacht. „Besonders das Parken auf Rad- und Gehwegen“, weiß Polizeioberrat Klang, „führt mittlerweile zu besonderer Eskalation“ – zu Schlägereien und zu einer besonderen Form der Auto-Aggression: klandestine Ein-Mann- und Ein-Frau- Guerillatrupps hinterlassen ihre Spuren: demolierte Kotflügel, dicke Ratscher auf dem Lack, abgebrochene Antennen, zerstochene Reifen.

Das Phänomen der Aggression auf den Straßen ist bekannt, jeder hat dazu aus jüngster Erfahrung mindestens eine persönliche Leidensgeschichte beizutragen. Nur warum verlieren die Menschen gerade im Straßenverkehr auch den letzten Rest zivilisatorischer Aggressionsregulierung? Weil es auf den Straßen immer voller wird, die Fahrzeuge sich längst gegenseitig lahmlegen. Das wäre die simpelste Erklärung. Psychologen sehen die Ursachen der steigenden Aggression auf den Straßen eher in der zunehmenden Brutalisierung und Gewaltbereitschaft der gesamten Gesellschaft. Dennoch mühen sie sich an vielen Orten, bei den wenigen „Kriegern“, die erwischt werden, mit speziellen Verkehrstherapien um Einsichtsfähigkeit.

„Die Menschen suchen ein Ventil für den gesellschaftlichen Frust“, meint Verkehrsrichter Vath, „und finden das Ventil an einem anonymen Ort, wo alle gleich sind. Wenn an den Autos dranstünde: hier fährt Meier oder Müller, sähe das schon anders aus.“ „Der Straßenverkehr ist ein Spiegel der Gesellschaft“, schreibt der TÜV-Rheinland in einer Untersuchung über Konkurrenzverhalten im Straßenverkehr, „es gibt offensichtlich kein isoliertes Verkehrsverhalten, sondern dies wird von allgemeinen Lebenseinstellungen und Lebensprinzipien bestimmt.“ Richter Vath ist kein Anhänger von härteren Strafen. Aber bei Gewalt und Ordnungswidrigkeiten im Straßenverkehr, wo jede kleine Mißachtung schnell zu Toten führen kann, „würde das durchaus was helfen“, meint der Jurist, „denn tausend Mark für zu schnelles Fahren oder den Führerschein los zu sein, das ist das, was die Leute schmerzt.“ Experten warnen jedoch gleichzeitig vor einer zu starken Reglementierung. So kommt die vom Berliner Senat eingesetzte „Unabhängige Kommission zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt“ im Kapitel „Gewalt im Straßenverkehr“ zu dem Ergebnis: „Im Umfang der durch Verkehrszeichen angeordneten Ge- und Verbote und in der behördlichen Praxis steckt ein nicht unwesentlicher Gewaltfaktor.“ Denn wo viel reglementiert wird, wollen auch viele ihr Recht durchsetzen, notfalls mit der Faust. Als wesentliche Maßnahme zur Befriedung unserer Straßen sieht die Unabhängige Kommission des Senats ebenso wie andere Experten jedoch nur eines: Verringerung und Entflechtung des motorisierten Verkehrs, Stärkung des öffentlichen Nahverkehrs.

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