: Naturnutzung ist austauschbar
Daß der Tourismus einen Beitrag zu Entwicklung und Stabilisierung ländlicher Regionen leisten kann, ist unbestritten, die Frage ist nur wie. Eine Untersuchung in den Schweizer Regionen fordert vor allem vielseitiges Wirtschaften ■ Von Manfred Perlik
Auch dieses Jahr wird der Wintertourismus in den Schweizer Alpen mit ziemlicher Sicherheit die gleichen Schlagzeilen wie in den Vorjahren liefern. Drei Möglichkeiten bieten sich an: 1. Es schneit viel. Viele Menschen reisen in die Berge. Die Straßen zu den Skigebieten sind verstopft. Der öffentliche Verkehr bricht wieder zusammen. 2. Der Schnee bleibt aus. Die Branche beklagt die Nichtauslastung der gerade in der Kapazität erweiterten Liftanlagen und verstärkt die künstliche Beschneiung. Hie und da wird versucht, den Klimawandel dafür verantwortlich zu machen. 3. Die Wetterlage wechselt. Die Lawinengefahr steigt. Der Klimawandel wird verantwortlich gemacht.
Die Alpen bestehen nicht nur aus Skipisten
Gemeinsam ist diesen Meldungen, daß sie implizit touristische Übererschließung ins Zentrum stellen. Das soll für den Einzelfall nicht bestritten werden, ebensowenig wie die Gefahr des Klimawandels. Im folgenden steht jedoch eine andere Frage im Mittelpunkt: Welchen Stellenwert hat der Tourismus heute bei der Regionalentwicklung der Alpen und welchen Beitrag könnte er zugunsten einer nachhaltigen Entwicklung leisten?
Ein wesentliches Ergebnis der Alpenforschung der letzten Jahre ist, daß die Alpen nicht mehr insgesamt ein strukturschwacher Raum sind wie noch vor zwanzig und dreißig Jahren. Statt dessen haben sich die regionalen Unterschiede innerhalb der Alpen verstärkt. Die im deutschsprachigen Raum bekannten Übernutzungserscheinungen, als Beispiele das 19.000- Betten-„Dorf“ Saalbach-Hinterglemm und die französischen Ski- Stationen in Savoyen, kontrastieren deutlich mit Siedlungsaufgabe und Unternutzung in den italienisch/französischen Südwestalpen. Die Probleme touristischer Monostruktur erklären nicht allein die Gefährdung und Zerstörung der Alpen.
Verstädterung und Verödung
Wie zwei kürzlich am Geographischen Institut Bern entstandene Arbeiten1 zeigen, vollzieht sich in den Alpen ein gegenläufiger Prozeß: Seit Ende des Agrarzeitalters ist fast die Hälfte (47 Prozent) der Gemeinden gewachsen, besonders stark in Tirol und Bayern. Fast genauso viele (43 Prozent) sind von zum Teil dramatischer Abwanderung geprägt (vor allem in den Südwestalpen, wo gegenüber dem letzten Jahrhundert oft nur noch ein Fünftel der Bevölkerung lebt). In Zusammenhang mit einem durchschnittlichen Bevölkerungswachstum um 57 Prozent im Europa der sieben Alpenstaaten gibt bereits eine stagnierende Bevölkerungsentwicklung einen deutlichen Hinweis auf Strukturschwäche.
In den Wachstumszonen findet demgegenüber ein Prozeß der Verstädterung statt, bei dem sich vor allem die um die Städte gelegenen Pendlergemeinden vergrößern. 1990 lebten von den elf Millionen Einwohnern des Alpenraumes bereits 44 Prozent in Städten oder Agglomerationen. Dies bedeutet, daß sich jetzt auch im Berggebiet die weltweit für die Dienstleistungsgesellschaft typische Erscheinung der Trennung von Wohn- und Arbeitsgemeinde durchgesetzt hat. Dieser Prozeß betrifft vor allem die Gemeinden in den großen Alpenhaupttälern in niedriger verkehrsgünstiger Lage (z.B. Rhein- oder Inntal). Die wenigen, aber flächengroßen hochgelegenen Gemeinden in den Seitentälern sind dagegen verstärkt von Abwanderung geprägt. Die Tourismusgemeinden entziehen sich bislang diesem Bild: Im gesamten Alpenraum sind sie nicht flächendeckend, sondern nur punktuell vertreten. Die aus der Schweiz vorliegenden Gemeindedaten zeigen, daß ihre Zahl und Bedeutung im letzten Jahrzehnt nicht zunimmt. Dies deutet auch auf ein Ende der touristischen Expansionsphase seit Mitte der achtziger Jahre. Die Bewohner der Tourismusgemeinden sind bisher kaum einbezogen in die aktuellen Prozesse der Trennung von Wohnen und Arbeiten, da im Ort ein gewisses Angebot an Arbeitsplätzen vorhanden ist.
Damit ergeben sich für den Alpenraum folgende, vom üblichen Bild der erodierten Skipisten etwas abweichende Hauptprobleme:
– In den bevölkerungsreichen Gebieten der wachsenden Agglomerationen gleichen die Probleme zunehmend denen außerhalb des Berggebietes: Verkehr, Flächenverbrauch, soziokulturelle Spannungen.
– In den bevölkerungsarmen Gebieten kann für eine immer größer werdende Fläche allein aus personellen Gründen die politische, ökonomische und ökologische Verantwortung nicht mehr angemessen wahrgenommen werden.
– Es wachsen die Verflechtungen Wohnen im Berggebiet/Arbeiten im Tal und Wohnen am Alpenrand/ Freizeit im Gebirge. Dieser aus dem „hohen Freizeitwert“ der Arbeitsplatzzentren am Alpenrand erwachsende Effekt bewirkt einen enormen Verkehrszuwachs mit dem winterlichen Verkehrskollaps im Umkreis der Skigebiete am Wochenende.
– Die Trennung von Arbeit/Wohnen/Freizeitaktivität macht die Naturnutzung zunehmend austauschbar und nimmt die Übernutzung einzelner Gebiete widerspruchslos in Kauf. Im gegebenen Fall wird für den Samstagsausflug anderswohin ausgewichen, notfalls mit etwas weiterem Anfahrtsweg.
– Die Probleme der Tourismusorte liegen in der Abhängigkeit gegenüber einer von außerhalb kommenden Kundschaft, der man sich angesichts der Marktlage auf Gedeih und Verderb anpassen muß oder meint, anpassen zu müssen. Die strategischen Investitionen, zum Beispiel um die Schneeunsicherheit im Winter auszugleichen, sprengen oft jegliche Vorstellungen ökologischer, aber auch ökonomischer Nachhaltigkeit.
Regionalpolitische Konsequenzen
Es ergeben sich daraus zwei Konsequenzen: 1. Der gegen die Natur- und Landschaftszerstörung ins Feld geführte Nachhaltigkeitsgedanke muß ökologische, ökonomische und soziokulturelle Nachhaltigkeit gleichberechtigt berücksichtigen. Daraus ergibt sich nicht die Frage Tourismus ja oder nein, sondern wie dieser Tourismus beschaffen ist. Dabei sprechen alle Erfahrungen gegen monostrukturierte und auf hohe Kapazitäten ausgerichtete Formen. Zum einen, weil bei ausgeprägter Monostruktur eine Korrektur ökologischer Fehler sehr schwer ist, was in den kleinräumig strukturierten Alpen zusätzlich schwer wiegt. Zum anderen, weil unter solchen Bedingungen der Wandel auf der Nachfrageseite nach umweltverträglicheren Tourismusangeboten kaum nachvollzogen werden kann. Und schließlich, weil eigene Entwicklungsalternativen dadurch zwangsläufig zerstört werden. Aus diesem Grunde ist es wichtig, auch gegenwärtig wertschöpfungsschwache Wirtschaftsaktivitäten wie die Berglandwirtschaft bewußt zu erhalten. Ihre stärkere Verknüpfung mit Tourismusangeboten könnte in diesem Sinne stabilisierend wirken und auch ökologisch sinnvolle Neuerungen im Tourismussektor verbreiten.
2. Tourismus spielt in unterschiedlich geprägten Regionen2 eine sehr unterschiedliche Rolle:
– Entsiedlungsregionen nehmen im Alpenraum 15 bis 20 Prozent der Fläche ein. Sie sind fast ausschließlich agrarisch geprägt und nahezu ohne Tourismus. Hier stellt sich die Frage, ob aus Naturschutzgründen der Zusammenbruch zu forcieren ist (wobei nochmals darauf verwiesen sei, daß dies zwangsläufig mit einem Wachstum der Agglomerationen verbunden ist). Falls die Besiedelung aufrechterhalten werden soll, bedarf es einer Aufwertung, wofür als einzige Möglichkeit einfachere Tourismusformen in Frage kommen.
– Die am Alpenrand gelegenen Pendlerregionen nehmen stark zu. Sie sind auf ein außeralpines Zentrum ausgerichtet (z.B. Mailand), so daß sie an deren Wertschöpfung teilhaben. Dies ist zunächst positiv, gleichzeitig sind diese Regionen jedoch Ausdruck des Zusammenbruchs der Alpen als eigenständiger Arbeits- und Lebensraum. Hier könnten touristische Angebote zu einer Stabilisierung beitragen. Aufgrund ihrer Lage (nicht schneesicher) müssen diese Regionen allerdings eigenständige Ideen hierzu entwickeln.
– Ländliche Regionen sind in der Regel strukturschwach. Um sie in ihrer doppelten Funktion als Lebens- und Wirtschaftsraum zu erhalten, ist ein Wandel zu Entsiedlungs- bzw. Pendlerregionen zu vermeiden. Tourismus kann in diesem Zusammenhang eine dezentrale Wirtschaftsweise stützen und so auch Problemen der Agglomerationsentwicklung gegensteuern.
– Zentrendominierte Regionen (z.B. im Wallis mit Arbeitsplatzzentrum im Tal und hochgelegenen Tourismusgemeinden) stehen relativ gut da. Ihre Tourismusformen sind jedoch meist wenig umweltverträglich. Zudem gleichen sich die Probleme dieser Regionen immer mehr denen außeralpiner Agglomerationen an und erfordern auch ähnliche Lösungen. Auch für den Tourismus gilt hier die Notwendigkeit des „qualitativen Umbaus“.
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