: „Korruption existiert auf höchster Ebene“
■ Interview mit dem Soziologen Tony Jeffs von der Universität Newcastle upon Tyne
taz: Premierminister John Major hat die „Bürger-Charta“ erfunden, um die Beamten an die Kandare zu nehmen; Labour-Führer Tony Blair verspricht Ehrlichkeit in der Politik. Gibt es überhaupt Korruption in Großbritannien?
Tony Jeffs: Die Voraussetzungen für Korruption im Vereinigten Königreich sind ganz anders als in den meisten anderen Ländern. Die Einflußmöglichkeiten der Unterhaus-Abgeordneten sind eher unbedeutend. Sie haben nichts zu entscheiden, weil der Fraktionszwang rigoros gehandhabt wird und weil es noch nie eine Koalition gab. Die Macht liegt vor allem in den Händen der Regierung.
Heißt das, es gibt im Unterhaus keine Bestechung?
Doch, natürlich gibt es die, und zwar aus zwei Gründen: Zum einen kassieren Abgeordnete Geld, damit sie im Parlament bestimmte Fragen stellen. Im vergangenen Jahr ist ein Tory-Abgeordneter aufgeflogen, weil er dafür tausend Pfund kassiert hatte. Neben Informationen geht es den Interessengruppen aber auch um den Zugang zum Unterhaus, da es ihnen eine Aura von Ehrbarkeit und Solidität verleiht, wenn sie im Tea-Room oder der Bar des Unterhauses tagen dürfen. Besonders wichtig ist ihnen dabei die Nähe zu den Ministern. An die wollen sie heran, weil sie die Macht haben. Für die Herstellung des Kontakts bezahlt man einen Abgeordneten gerne.
Und die Minister und Staatssekretäre im Vereinigten Königreich? Sind die auch bestechlich?
In der britischen Gesellschaft existiert Korruption auf höchster Ebene. Die Parteien müssen ihre Finanzen nicht offenlegen. Auf diese Weise erfährt auch niemand, welche Firmen welcher Partei wieviel spenden. Auffällig ist, daß fast jedes Regierungsmitglied nach Ablauf seiner Amtszeit geradewegs in einen hochdotierten Aufsichtsratposten eines großen Unternehmens spaziert. Das ist die Belohnung für die Gefälligkeiten, die sie der Firma während ihrer Amtszeit getan haben.
Wie kommt es aber, daß so etwas vertuscht werden kann?
Das System ist recht sicher, kaum jemand wird geschnappt. Das liegt daran, daß sich die Korruption auf die obersten Etagen konzentriert. Es lohnt sich kaum, das Netz nach unten auszudehnen — ein Stadtrat hat doch ohnehin keine Macht. Die Sache fliegt nur dann auf, wenn jemand einen Fehler macht oder pleite geht, wie im Fall des Architekten Poulson, bei dem eine ganze Reihe hochrangiger Politiker auf der Gehaltsliste standen. Ansonsten ist das Netzwerk mit seinen schäbigen und erbärmlichen Geschäften wasserdicht. Woher Margaret Thatchers Sohn Mark sein Millionenvermögen hat, wird wohl nie ans Licht kommen.
Was ist mit der Parteibasis? Warum lehnt sich niemand gegen die Korruption auf?
Die großen britischen Parteien sind leere Hülsen, die Wurzeln sind dünn geworden. Viele sind Mitglieder einer Partei, weil sie sich persönliche Vorteile davon versprechen. Es herrscht ein System von sogenannten Quangos in Großbritannien. Das sind Agenturen und private Stellen, die für Bereiche zuständig sind, die eigentlich zu den traditionellen Aufgaben des Staates gehören – etwa Gesundheit oder Bildung. Diese Quangos delegieren die Arbeit wiederum an Tausende von Privatunternehmen. Es geht also um viel Geld. Jeder Minister herrscht über rund 3.000 gutbezahlte Pöstchen, und er stellt sicher, daß die an die richtigen Leute gehen. So erkaufen sich Menschen aus allen möglichen Berufssparten den Zugang zu den Quangos, weil sie auf diesem Weg Kontrolle über Grund und Boden, bestimmte Geschäftsbereiche und so weiter erlangen. Und aus einem Quango ist der Sprung zum Regierungsberater nicht mehr weit. Wenn man Glück hat, fällt später sogar noch ein Adelstitel ab.
Interview: Ralf Sotscheck,
Newcastle
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