Vogelperspektiven

■ „Über Norddeutschland“ heißt der neue Bildband des Fotografen Karl Johaentges, der per Heißluftballon die Landschaft aus der Vogelperspektive einfing

Was das Wetter angeht, hat Deutschlands Norden einen miesen Ruf: kalt und viel Regen. Aber wenn man irgendwo da oben lebt, vermißt man anderswo auch den für diese Gegend so charakteristischen klaren Himmel und den Wind, der die (zugegeben sehr oft vorhandenen) dunklen Wolken immer wieder aufreißt.

Durch diesen Himmel gondelten die Autoren des Bildbandes „Über Norddeutschland“, um aus der Vogelperspektive bizarre Küstenlinien, romantische Rundlingsdörfer oder qualmende Industrieanlagen für eine faszinierende Bildersammlung für den Lehnstuhlreisenden zu fotografieren.

Karl Johaentges Aufnahmen erschließen Perspektiven, von Kiepsand auf Amrum bis zum sterbenden Wald auf dem Brocken im Harz, die sonst nicht so leicht zugänglich sind – schon gar nicht für Höhenangst-Geplagte. Aus dem Blickwinkel eines Fesselballons kann man über den Grundriß Lübecks meditieren, die Mosaikformen einer Hallig mit einer bizarren Brosche vergleichen oder die winzig kleinen HSV-Spieler im Hamburger Volksparkstadion zählen. „Der weitreichende Blick aus der Vogelperspektive macht viele Dinge deutlicher. Wie schmal und zerbrechlich die Nordseeinseln sind, wie ungeheuer weitflächig und grün die norddeutsche Tiefebene, wie wenig besiedelt das Binnenland ist und wie leer die Strände selbst an heißen Sommertagen.“

Die Bilder sind stimmungsvoll ruhig, und der Autor des knappen vorangestellten Textteils, Jürgen Hogrefe, erfreut mit informativen Anekdoten, auch wenn er die nette, übersichtlich gemachte norddeutsche Welt manchmal nur von ihrer besten Seite kennen will. Bei den Betrachtungen zu Hamburg hat ihn dann wohl kurzfristig der Höhenrausch erwischt: Hamburgs gnadenlose Sanierungswut zum Kennzeichen weltoffener und dem Neuen aufgeschlossener Gesinnung umzudefinieren, ist wohl nur aus großer Höhe möglich. Aber sonst schneiden die Texte mit einer verblüffenden Vielseitigkeit alle mit Land und Leuten verbundenen Themen an: vom Widerstand gegen das Atomendlager in Gorleben über die Ursachen für die Lüneburger Heide (das waren die Lüneburger Salzkocher, die halb Norddeutschland abgeholzt haben) bis hin zum Barschel-Skandal und späteren Sturz Engholms. Ebenfalls interessant: Ein Mensch mit „Granatenverstand“ ist für den Platt sprechenden Menschen eher ein „Dämelack“ als besonders intelligent, da die Größe seines Denkapparats mit einer Garnele (=Granat) vergleichbar ist. Und hätten Sie gewußt, daß die Ostfriesischen Inseln durch die Nordsee marschieren? Spiekeroog wanderte bereits um seine halbe Länge nach Osten, und Borkum saust mit einer Geschwindigkeit von 1km/ Jahrhundert hinterher.

Anders als bei der diesem Bildband vorangegangenen, preisgekrönten Dokumentation einer Reise „Mit dem Ballon über Ostdeutschland“, mußte der gondelbegeisterte Fotograf Johaentges für dieses Buch auch mal in den Hubschrauber umsteigen. Beim Ballonfahren kann man halt nie so genau wissen, wo man schließlich ankommen wird, und wenn man es dann auch noch mit einem verregneten norddeutschen Sommer zu tun hat, in dem es massiv an den für Ballonfahrten notwendigen stabilen Hochdrucklagen mangelt, muß die Helikoptertechnik eben aushelfen. Somit wäre das Gerücht vom sprichwörtlich schlechten Wetter im Norden dann doch wieder bewiesen. Regina Weidele

Karl Johaentges/Jürgen Hogrefe: „Über Norddeutschland“. KaJo- Verlag, 156 Seiten mit 120 Farbfotos, 48 Mark.