■ Nach den bündnisgrünen Niederlagen im Osten: Aufrecht im Abseits
Von „mehr als einem Wermutstropfen“ war auf der ersten bündnisgrünen Pressekonferenz nach der Bundestagswahl die Rede. So kann man das ausdrücken. Gemeint waren die dramatischen Ergebnisse, die die Partei am vergangenen Sonntag im Osten erreichte. Die ehemaligen BürgerrechtlerInnen werden in der neuen Bundestagsfraktion lediglich mit fünf Abgeordneten vertreten sein. Nirgends kam das Bündnis über fünf Prozent und noch am Abend der Bundestagswahl war klar, daß die Partei künftig nur noch in einem einzigen östlichen Landesparlament vertreten sein wird. Der Negativtrend in den neuen Ländern wirkt unumkehrbar. Die BürgerrechtlerInnen scheinen am politischen Nullpunkt angelangt.
Dort waren sie schon einmal – vor dem Aufbruch 89. Das ist kein zynischer Kommentar, eher ein Verweis auf den Zynismus der Verhältnisse. Fünf Jahre nachdem die langjährigen Dissidenten gemeinsam mit Hunderttausenden auf die Straße gingen, um mit der Parole „Wir sind das Volk“ die Bastionen des SED-Regimes zu stürmen, finden sie sich heute erneut in der Rolle politischer Außenseiter: keine Verwendung für die friedlichen Revolutionäre. Seither erst wird in der ehemaligen DDR frei gewählt. Doch historisches Verdienst scheint keine hinreichende Begründung für politische Akzeptanz. Was sich da im Osten derzeit vollzieht, wirkt wie eine Abwicklung – eine Bestrafung?
„Wir müssen die Menschen dort abholen, wo sie stehen“, lautete im Herbst 89 eine Maxime der sich formierenden Bürgerbewegung. Doch in dieser Hinsicht sind längst andere erfolgreich. Bis auf den kurzen historischen Augenblick des Aufbruches ist es den BürgerrechtlerInnen weder vor noch nach dem Systemwechsel gelungen, die vielbeschworene „Brücke in die Gesellschaft zu schlagen“. Es spricht einiges dafür, daß die Marginalisierung der einstigen BürgerrechtlerInnen – ähnlich wie die Renaissance der PDS – weniger mit politischen Programmen als mit gesellschaftlichen Stimmungslagen zu tun hat. Für die Wahlentscheidung bildet die Hoffnung auf die schnelle Ost-West-Angleichung oder der Protest gegen deren Durchsetzung und Folgen die polarisierten Hauptströme. Beide kann das Bündnis nicht bedienen. Vertrauen und Zuversicht auf den Fortschritt-West repräsentieren am ehesten die Union, oder, sozial abgefedert, die Sozialdemokraten. Alle Facetten des Einheitsprotestes sowie den Status der authentischen Ost-Opposition okkupiert längst die PDS. Gegen ihren aufrichtenden Appell an das Selbstbewußtsein der ehemals Angepaßten hat der kritische Blick zurück längst keine Chance. Im Gegenteil. Er stößt auf wachsende Ablehnung.
Fordern die Bündnisgrünen im Osten überhaupt noch die längst gescheiterte Vergangenheitsdebatte? Darüber wurde nach den Wahlniederlagen in Sachsen und Brandenburg heftig gestritten. Während die westgrüne Parteispitze die „Vergangenheitsorientierung“ ihrer Parteifreunde als Grund für die mangelnde Akzeptanz ausmachte, hielten die BürgerrechtlerInnen dagegen, der Blick zurück sei längst der Arbeit an den aktuellen Problemen gewichen. In diesem Streit hatten beide Seiten recht. Die politische Neuorientierung der Bündnisgrünen im Osten ist längst im Gang. In Sachsen führte das Bündnis bei den – ebenfalls verlorenen Landtagswahlen – einen regelrechten Wirtschaftswahlkampf. Doch unbeschadet dessen bleibt die Assoziation der BürgerrechtlerInnen mit der Forderung nach einer kritischen Aufarbeitung der SED-Vergangenheit weiter dominant. Jede inhaltliche Neuorientierung bleibt überlagert von anderen Bildern und Ereignissen: Hungerstreik in der Stasi-Zentrale, aktenstudierende BürgerrechtlerInnen im Lesesaal der Gauck-Behörde, Marianne Birthlers Rücktritt und die Proteste der einstigen Oppositionellen gegen Manfred Stolpe.
Niemals ist es den Bündnispolitikern im Osten gelungen, ihre Einsicht, kritische Aufarbeitung sei die Voraussetzung einer gelingenden Neuordnung, einem relevanten Teil der Gesellschaft nahezubringen. Doch erst die Verknüpfung dieses Anspruches mit der Öffnung der Akten und der bald darauf einsetztenden Enttarnung ehemaliger Stasi-Mitarbeiter brachte die offene Ablehnung. Die gesellschaftliche Indifferenz verwandelte sich in Überdruß, Unmut und Aggression.
Die BürgerrechtlerInnen haben ihren prägenden Realitätsschock als widerständische Minderheit zu DDR-Zeiten erlebt, der Rest der ehemaligen DDR-Gesellschaft erst im Zuge der Vereinigung. Während die Opposition jetzt daranging, mit der Vergangenheit auch die Geschichte ihrer Unterdrückung aufzuarbeiten, sah sich die überwiegende Mehrheit ganz anderen, aktuellen und existentiellen Zumutungen ausgesetzt. Es gibt keinen Präzedenzfall für die Radikalität und Geschwindigkeit des gesellschaftlichen Umbruchs in der ehemaligen DDR. Deshalb hatte auch der Anspruch, die neue Gesellschaft über den kritischen Rekurs in die Vergangenheit zu errichten, nie die Chance, in einem breiteren Teil der Gesellschaft verstanden zu werden. So blieb die Vergangenheitsdebatte von einer ruinösen Dynamik geprägt. In dem Maße, in dem sich die ehemaligen DDR-BürgerInnen gegen den Anspruch abdichteten, haben die BürgerrechtlerInnen mit vollem Einsatz an Moral und Rigidität versucht, ihrem Anliegen Gehör zu verschaffen. Doch mit der medial forcierten Verengung der Debatte auf die Täter-Opfer-Dichotomie gerieten der Anspruch und seine Verfechter weiter ins Abseits. Es ist deshalb nicht ausgemacht, welche Kluft die größere ist – die zwischen Ost und West oder die zwischen der ehemaligen DDR-Gesellschaft und ihrer Opposition, zwischen der erdrückenden Mehrheit der Nischenbewohner und den wenigen Aufrechten. Erst die jüngsten Wahlniederlagen haben diese Kluft spektakulär ausgeleuchtet. Doch der eigentliche Akzeptanzverlust der BürgerrechtlerInnen hat sich längst vollzogen, zwischen dem Herbst 89 und den Volkskammerwahlen im März 1990. Gegen die Übernahme des politischen Geschäfts durch die westlichen Parteien waren sie chancenlos. Erst die mit schlechtem Gewissen unterfütterte Stilisierung zu „Helden des Umbruchs“, dann die Vereinigung mit den West-Grünen hat ihren politischen Bedeutungsverlust lange verdeckt.
Wie der Niedergang der Bündnisgrünen im Osten gestoppt werden könnte, wie man die Konkurrenz zur PDS durchhalten, wie die Partei ein neues politisches Profil im Osten gewinnen kann, dafür gibt es derzeit nicht den Hauch eines Konzeptes. Doch immerhin, der Schock der Niederlage ist zu drastisch, der Ostteil der Partei zu dezimiert, als daß die Suche nach neuen Ansätzen noch von dem lange Zeit schwelenden innergrünen Ost-West-Konflikt überlagert würde. Denn ohne eine Vertretung im Osten kann die Partei sich auf Dauer schwerlich behaupten. In dieser Drohung zumindest könnte die Chance für eine gemeinsame, von Ost und West getragene Anstrengung liegen. Matthias Geis
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